Bretonische Brandung
warum es Madame Menez auf die Glénan verschlagen hat. Ihre Geschichte.«
»Ihre Geschichte?«
»Genau.«
Das waren zwei Dinge, die ihm gestern noch durch den Kopf gegangen waren. Zwei von sehr vielen.
Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, nahm Dupin Notizbuch und Stift, stand auf, legte zehn Euro auf das rote Plastiktellerchen und verließ das Bulgare.
Sein Wagen, ein alter, von ihm heiß geliebter kantig-klobiger Citroën XM, den er gegen alle Anweisungen der Präfektur bisher nicht durch einen neuen Dienstwagen ersetzt hatte, stand buchstäblich vor der Tür. Die Sonne war jetzt aufgegangen, und die hier heftig befahrene Route Nationale, die zehn, fünfzehn Meter vor ihm lag, lief im Osten, Richtung Concarneau, in einen grell orangerosa Himmel hinein.
Es war Punkt acht Uhr. Der Direktor war quasi zeitgleich mit Dupin eingetroffen. Der Arbeitstag der Wissenschaft begann früh.
Es war ein imposantes Büro, in dem der Direktor saß, imposant schon aufgrund seiner Größe, sicherlich vierzig Quadratmeter, schätzte Dupin, imposant vor allem aber durch seine Aussicht: Durch Panoramafenster sah man weit auf den offenen Atlantik hinaus. Die fünfte Etage des ehrwürdigen dunkelgrauen Steingebäudes, dem man seine hundertzehn Jahre ansah, die es, mit der Rückseite direkt ins Meer hineingebaut, der tosenden Brandung widerstanden hatte, protzte mit einem Blick wie von einem Leuchtturm.
Direktor Le Berre-Ryckeboerec, ein nicht gerade großer, hagerer Mann Ende fünfzig mit einem eingefallenen, fahlen Gesicht und spärlichem Haar, dessen blasser Erscheinung lediglich durch seine höchst vitalen hellgrünen Augen Lebendigkeit verliehen wurde, saß hinter einem bedrohlich scharfkantigen Holzschreibtisch. Er trug einen einst sicherlich eleganten, mittlerweile abgetragenen dunkelgrauen Anzug.
Der Sekretärin des Direktors war anzumerken gewesen, dass sie ein wenig erschrocken war über das unangekündigte Auftauchen des Kommissars. Mit Sicherheit hatte sie von dem dreifachen Mord gehört. Ohne Vorankündigung hatte sie Dupin nach einem kurzen, hastigen Anklopfen in das Zimmer des Direktors geleitet. Der hatte sich, so schien es, gerade in diesem Augenblick erst hingesetzt und hielt ihr Vorgehen offenkundig für unangemessen.
»Ich hätte doch gern erst ein Telefonat getätigt, Madame Sabathier. Und seit wann empfangen wir Besuch, der sich nicht anmeldet?«
Er tat demonstrativ so, als ob Dupin noch gar nicht im Raum wäre. Seine Stimme war – im Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung – kräftig und herrisch.
»Ich bedauere es zutiefst, Monsieur le Directeur, es wird nicht wieder vorkommen. Ich dachte nur – Monsieur le Commissaire Dupin ermittelt doch in diesem schrecklichen Mordfall an …«
»Ich habe sehr wohl Kenntnis von diesem Mordfall.«
Immer noch fand die Konversation in souveräner Ignoranz der Anwesenheit Dupins statt.
»Aber das ist kein Grund, Etikette und Form außer Kraft zu setzen. Oder meinen Arbeitstag durcheinanderzubringen.«
Dupin spürte ein wütendes Vibrieren im Solarplexus. Seine Rage stieg von Sekunde zu Sekunde. »Ich denke schon, Monsieur. Ein dreifacher Mord bringt alles gehörig durcheinander.« Direktor Le Berre-Ryckeboerec taxierte ihn kalt.
»Und die Ermittlungen in diesem Mordfall führen Sie an das illustre Institut Marine? Nun, das Institut mit seinen hundertfünfzig internationalen Wissenschaftlern begrüßt Sie herzlich. Wie können wir Ihnen behilflich sein?«
Schon auf der Fahrt hierher war Dupin der anonyme Anruf fast wie ein sonderbarer Traum vorgekommen. Er musste zugeben, dass der unbestimmte Hinweis auf irgendwelche »Aktivitäten« eine wacklige Position für eine Befragung war, zumal unter diesen unfreundlichen Bedingungen. Und außer den spärlichen im Internet erhältlichen Informationen zu Pajots und Konans Firma, die Nolwenn ihm noch kurz vor seinem Eintreffen durchgegeben hatte, wusste Dupin rein gar nichts. Alles in allem eine äußerst schwache Ausgangsposition. Es bliebe also nur die Flucht nach vorn, eine Option, die Dupins Wesen ohnehin sehr entsprach.
»Es geht um die illegalen geschäftlichen Transaktionen zwischen dem Institut und Medimare – der Firma, die zweien der drei Männer gehörte, die gerade Opfer eines Mordes geworden sind.«
Dupins Unterstellung war durch nichts gedeckt. Aber er musste wissen, ob er auf der richtigen Spur war, und Vorsicht würde ihn hier kaum weiterbringen. Der Direktor setzte sich gerade hin, das Gesicht
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