Bretonische Brandung
Extrem hart. Hier sind Sie weit weg von der Welt. Weitab der Zivilisation. Die achtzehn Kilometer Entfernung zum Festland, das glatte Meer heute, der Handyempfang bei diesem Wetter, dass Sie hier einen café kriegen, Wein, etwas zu essen – all das täuscht. Das ist kein richtiges Land – wenn Sie hier sind, sind Sie auf See.«
Anjela Barrault klang wie Leussot vorhin, dachte Dupin. Er hatte ganz ähnliche Wendungen benutzt. Aber alle hier taten das, wenn es um die Inseln und sie selbst ging.
»Und das lässt die Menschen sonderbar werden?«
»Ohne Frage. Aber – man muss schon etwas sonderbar sein, um überhaupt herzukommen. Hierher kommt man nicht ohne Grund.«
»Was meinen Sie damit?«
Anjela Barrault hob kurz die Schultern.
»Jeder hier hat seine Geschichten. Seine Erfahrungen. Seine Aufgaben. Einen Grund, warum er hier ist und nicht an einem bequemeren Ort.«
»Und – könnte all dies in einen Mord münden?«
»Eigentlich eben nicht. Die Dinge müssten wirklich völlig schieflaufen. Eigentlich treffen sich die Lebenswege der Menschen hier kaum, selbst wenn es oberflächlich so aussieht. Jeder lebt hier im Prinzip sein eigenes Leben, einer neben dem anderen. Wir wissen nicht viel voneinander. Von den entscheidenden Dingen oft gar nichts. Verstehen Sie?«
Das nun verstand Dupin erstaunlich genau, auch wenn es nicht weniger eigenwillig formuliert war. Es entsprach ganz seiner Wahrnehmung.
»Spielen Sie auf etwas Bestimmtes an, das hier passiert ist? Auf etwas, das Sie wissen, beobachtet haben? Vermuten?«
»Nein.«
Das »Nein« war klar und bestimmt gewesen.
»Kannten Sie alle drei Toten persönlich?«
»Pajot habe ich nie getroffen. Konan kenne ich nur vom Sehen, er kam mit Lefort.«
»Und Lefort?«
»Ein Idiot. Hat mich nie interessiert.«
Aus irgendeinem Grund hatte sich das Boot für einen Moment bedenklich stark nach Backbord geneigt. Dupin verlor kurz den Halt, Anjela Barrault hielt ihn an der Schulter fest. Er fing sich wieder.
»Sie hatten keinen Kontakt zu ihm?«
»Nie. Wir haben nicht mal miteinander gesprochen. Uns nur gegrüßt.«
Dupin klemmte sich nachdrücklicher als vorher im Türrahmen fest, es musste kurios aussehen.
»Wissen Sie, welcher Entdeckung die drei auf der Spur waren?«
Das war unvermittelter gewesen, als Dupin es beabsichtigt hatte. Anjela Barrault runzelte die Stirn. Sie hatte sofort verstanden.
»Bei manchen dieser Funde geht es um viel Geld. Sie sollten das ernst nehmen. Viele Menschen hier nehmen es ernst.«
»Wissen Sie von etwas Konkretem?«
Jetzt lachte sie laut.
»Dann wäre ich selbst dabei.«
Dupin hätte zu gern gewusst, was die gerunzelte Stirn eben bedeutet hatte.
»Sie – sind Sie Schatzsucherin?«
»Ich bin Freediverin. Und Tauchlehrerin. Leiterin des Tauchzentrums. Wir haben fünfzehn Angestellte, im Sommer noch zwölf weitere, das ist ein richtig großer Betrieb.«
»Und nicht auf der Suche nach Schätzen?«
»Vielleicht finde ich ja zufällig mal etwas.« Wieder lachte sie laut auf.
Dupin hatte sich sehr auf das Gespräch und seinen stabilen Stand konzentriert und bemerkte erst jetzt, dass sie nur noch knapp fünfzig Meter von einer Insel entfernt waren. Er schaute sich um.
»Drénec. Wir werden hier eine Gruppe Tauchschüler an Bord nehmen, dann auf Cigogne. Sehen Sie die alte restaurierte Farm aus Stein?« Sie deutete mit dem Kopf Richtung Insel.
»Gehört ebenfalls zur Segelschule. Drénec war sogar mal besiedelt, und die Insel ist echt nicht groß. Die Menschen haben es immer wieder versucht, aber nie sind sie lange geblieben.«
Anjela Barrault drosselte die Geschwindigkeit. Jetzt sah Dupin eine kleine Gruppe, vielleicht sechs, acht Menschen, die sie erwarteten.
»Bei den wirklich starken Springtiden kann man von Saint-Nicolas zu Fuß hierherspazieren.«
Dupin blickte verdutzt auf das Wasser. Und nach Saint-Nicolas. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass das mit dem Wasser und dem Land hier draußen sehr instabil und uneindeutig war. Im Moment sah alles zwischen hier und Saint-Nicolas ausschließlich nach Atlantik aus.
»Bei enorm großen Koeffizienten von über 115 können Sie fast durch die ganze Kammer wandern.«
Das war eine verrückte Vorstellung. Dupin fischte den Petit Indicateur des Marées aus der Tasche, um nachzusehen, wann es das nächste Mal der Fall wäre. Er sah nur einen Haufen Zahlen und verstand nichts.
»In den letzten vier Jahrzehnten kam das nur zwölf Mal vor. Die Springflut gestern ist
Weitere Kostenlose Bücher