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Bretonische Verhältnisse

Bretonische Verhältnisse

Titel: Bretonische Verhältnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Luc Bannalec
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Garreg sprach immer mit derselben klaren, unbewegten, aber nie kalten Stimme, die ganz zu seiner Person passte. Es war evident, dass Garreg den alten Pennec meinte, dennoch rutschte Dupin seine Nachfrage raus:
    »Pennec?«
    Garreg ging nicht darauf ein.
    »Das Herz. Er hätte umgehend mehrere Bypässe gebraucht. Beachtliche Stenosen. Ein Wunder, dass er die letzten Jahre, Monate und Wochen überhaupt noch geschafft hat. Das war eher unwahrscheinlich. Sehr unwahrscheinlich.«
    »Sie kennen sein Herz? Ich meine, Sie sind auch sein Hausarzt?«
    »›Hausarzt‹ kann man das schwerlich nennen. Er hat sich nie untersuchen lassen, in drei Jahrzehnten nicht. Gar nichts, nicht die einfachsten Vorsorgeuntersuchungen. Er kam nur wegen des Rückens. Er hatte Rückenbeschwerden seit vielen Jahren, dagegen bekam er ab und an Spritzen. Am Montagmorgen kam er mit Schmerzen in der Brust. Es müssen starke Schmerzen gewesen sein. Nur unter Protest hat er ein EKG schreiben lassen.«
    Garreg hielt inne.
    »Und?«
    »Er hätte operiert werden müssen. Auf der Stelle. Er wollte nicht.«
    »Er wollte nichts unternehmen?«
    »Er hat gesagt: Wenn man in meinem Alter mit dem Operieren einmal anfängt, ist man verloren.«
    Garreg verzog keine Miene.
    »Wie lange hätte er noch zu leben gehabt?«
    »Wie ich sagte: Medizinisch gesehen«, Garreg artikulierte jedes Wort überpräzise, »hätte er eigentlich bereits tot sein müssen.«
    »Und Medikamente? Hat er Tabletten bekommen?«
    »Die hat er strikt abgelehnt.«
    »Und? Was haben Sie gesagt?«
    »Nichts.«
    »Aber er wusste, dass er daran sterben würde?«
    »Ja.«
    Garreg machte eine Pause und sagte dann in einem Tonfall, der den definitiven Abschluss dieses Punktes anzeigte:
    »Ein geistig gesunder Mann. Und einundneunzig.«
    Dupin verfiel einen Augenblick in Schweigen.
    »Wusste jemand von seiner Krankheit – von seinem Zustand? Wie akut er war?«
    »Ich denke nicht. Das wäre ihm sehr unangenehm gewesen, vermute ich. Er hat nie viel Aufhebens um sich gemacht. Er hat sogar gefragt, ob meine Sprechstundenhilfe davon wüsste, und war sehr beruhigt zu hören, dass sie die medizinischen Daten nicht abschließend beurteilen kann.«
    Garreg hatte Dupins Erstaunen bemerkt und setzte hinzu:
    »Ein sehr eigenwilliger Mann.«
    »War er denn nicht sehr geschwächt? Hätte man ihm seinen Zustand nicht anmerken müssen? Zumindest in den letzten Wochen?«
    Niemand hatte erwähnt, irgendeine Veränderung oder gar Schwäche an Pennec wahrgenommen zu haben.
    »Wissen Sie, das ist so eine Sache. Ein starker Wille. Ein stolzer Mann. Und wirklich flink war er ohnehin schon lange nicht mehr. Einundneunzig.«
    Garreg sprach das letzte Wort sehr langsam und schaute Dupin dabei ganz ruhig an. Mehr würde er nicht hören von Docteur Garreg. Es war alles gesagt.
    »Danke. Das war eine wichtige Information.«
    Dupin wusste, dass das Wort »wichtig« ein mutiges Wort war in diesem Zusammenhang. Durch nichts gedeckt. Er hatte im Augenblick keine Ahnung, ob sie überhaupt von Bedeutung für den Fall werden würde. Fest stand nur, dass diese Information den Fall im Augenblick noch ein Stück abstruser machte.
    »Haben Sie schon Hinweise, eine Idee?«
    Dupin war erleichtert über diese unerwartete Frage, sie minderte das Gefühl, das er während des Gespräches doch die ganze Zeit gehabt hatte: hier als Patient zu sitzen. Er bemühte sich, souverän zu antworten, was ihm aber nicht vollends gelang.
    »Wir gehen verschiedensten Hinweisen nach.«
    »Noch gar nichts also. Ja. Das ist ein schlimmer Fall. Ein wirklich schlimmer Fall.«
    Die Stimme des Arztes hatte sich zum ersten Mal verändert, jetzt war ihm eine starke Emotion anzumerken. Er stand auf und streckte Dupin die Hand entgegen.
    »Vielen Dank noch einmal, Docteur.« Dupin sprang viel zu schnell hoch, schüttelte Docteur Garreg die Hand, drehte sich um und ging. Mit raschem Schritt.
    Wieder auf der Straße, musste Dupin seine Gedanken ordnen. Er hatte wirklich keine Ahnung, was er mit dieser Neuigkeit anfangen sollte. Aber sie wog schwer. Das Opfer eines brutalen Mordes, ein sehr alter Mann, war lebensbedrohlich herzkrank gewesen. Und wäre höchstwahrscheinlich in allernächster Zeit – und das meinte in diesem Fall tatsächlich: in jeder Sekunde – eines natürlichen Todes gestorben. Und er war sich darüber im Klaren gewesen. Niemand hatte auch nur angedeutet, von Pennecs Zustand gewusst oder an ihm irgendetwas bemerkt zu haben. Hatte er seinen Zustand

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