Bretonische Verhältnisse
könnte …«
»Ich denke, wir sollten sehr bald sprechen.«
»Heute meinen Sie?«
»Ja.«
»Wissen Sie, ich bin in einem Fall und …«
»Heute dann?«
Wie sollte er das schaffen? Aber er wusste, er würde Ja sagen. Müssen. Bei Docteur Garreg hatte er nie eine Chance. Er würde es kurz vor Praxisschluss irgendwie hinbekommen. Garreg hatte keine Antwort abgewartet.
»Ich erwarte Sie.«
»Was meinen Sie? Jetzt?«
»Sie sind doch sicher noch in Pont Aven. Sie werden eine halbe Stunde brauchen.«
Dupin nahm noch einen Anlauf:
»Das tut mir sehr leid, das werde ich nicht möglich machen können. Ich bin gerade auf dem Weg zu einem wichtigen Gespräch.«
»Es geht um den Fall.«
Dupin verstummte.
»Den Fall? – Ich meine – Sie meinen den Mord an Pierre-Louis Pennec?«
»Ja.«
Dupin wusste, dass es keinen Sinn machte, am Telefon weiter zu fragen. Er ächzte ganz leise.
»Ich bin auf dem Weg, Docteur.«
Kommissar Dupin fuhr einen alten Citroën, den großen XM . In einem dunklen Blau. Er war kantig und klobig. Dupin liebte diesen Wagen, obgleich er für Autos allgemein keine besondere Leidenschaft hegte. Citroën hatte er, das betonte er immer wieder, schon gemocht, bevor ihm Nolwenn erklärt hatte, dass dies – wie sollte es anders sein bei guten Dingen – ein bretonischer Wagen sei, der aus Rennes stamme, wie auch Charles Vanel; Charles Vanel und natürlich vieles mehr.
Es hatte elendig lange gedauert, bis er in Concarneau ankam. Im Sommer schlichen die Touristen in ihren Autos über die schmalen Straßen zwischen Concarneau und Pont Aven, immer durch das kleine, hübsche Nevez hindurch, das er so mochte. Und da die meisten Ausländer die Vorfahrtsregeln der rondpoints entweder nicht kannten oder nicht souverän französisch zu handhaben wussten, kam es am Ortseingang von Nevez (wie an allen rond-points auf dem Weg) im Sommer regelmäßig zu stattlichen Staus.
Dupin hatte die ganze Fahrt über gerätselt, auf welche Weise Garreg mit dem Fall zu tun haben könnte. Nolwenn hatte ihm Doktor Garreg empfohlen, als er damals nach Concarneau gekommen war. Garreg war schon der Arzt von Nolwenns Kindern gewesen. Seitdem ging Dupin mit allem, was er hatte, zu ihm, egal, was es war. Und immer wusste Garreg Rat.
Als Dupin über die große stelzenartige Brücke fuhr, die zwischen zwei Hügeln hoch über den Moros führte, und die Stadtgrenze erreichte, merkte er, wie froh er war, wieder in Concarneau zu sein. Er bog direkt rechts ab in die Rue Dumont d’Urville, vorbei an der Markthalle, dann rechts in die Rue des Écoles. Doktor Garreg hatte seine Praxis in einem der typischen, schmal gebauten ehemaligen Fischerhäuschen, die die erste und zweite Reihe der Häuser am Hafen ausmachten. Er parkte an der umwerfend hässlichen neuen Kirche, eines der wenigen hässlichen Gebäude in Concarneau, und lief die paar Meter.
»Wie geht es dem Magen?«
Dupin war einen Augenblick lang verwirrt. Garregs Sprechstundenhilfe hatte ihn direkt ins Untersuchungszimmer geschickt, wo Garreg ihm in einem großen alten Sessel am Tisch gegenübersaß. Docteur Garreg war vielleicht Anfang siebzig, ein gebürtiger Concarnese. Unten auf dem Schild an der Praxis stand: Dr. Bernez Garreg, nicht Bernard. Er war groß und dünn, hatte ein lang gezogenes Gesicht, eine hohe Stirn. Das Dominanteste seiner Erscheinung war die unendliche Ruhe, die er ausstrahlte, nichts, so schien es, könnte ihn je nervös machen.
Dupin hatte seit Jahren wiederkehrende Magenbeschwerden, vor ein paar Monaten waren sie einige Male sehr schlimm geworden. Garreg hatte ein paar Minuten zugehört und dann gesagt: »Nervöser Magen. Und zu viel Koffein. Wenn Sie wollen, untersuche ich Sie trotzdem.«
»Danke, danke.« Die Sache mit seinem Magen war ihm etwas unangenehm in dieser beruflichen Situation.
»Ich meine: gut. Besser, ja. Ein ganzes Stück besser.« Er wusste, er machte einen etwas konfusen Eindruck.
Garreg blickte von seinen Papieren auf und schaute ihn ein wenig kritisch an. Dann sagte er entschieden:
»Na gut.«
Dupin war erleichtert, der Tonfall machte klar, dass das Thema erledigt war. Garreg sah ihn immer noch direkt an. Dupin hatte, so unauffällig wie möglich, nach seinem Stift genestelt. Vergeblich. Das Notizheft lag bereits auf seinem Schoß, aber der Stift war weg.
»Er hätte nicht mehr lange zu leben gehabt.«
Der Satz kam überraschend. Und Dupin hatte gedacht, er ginge weiter, aber Garreg hielt ihn hier erst einmal für beendet.
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