Bretonische Verhältnisse
Dreiviertelstunde hatte Dupin so im Restaurant und in der Bar zugebracht. Es hatte ein paarmal an der Tür geklopft, Dupin hatte es nicht wirklich wahrgenommen. Um 18 Uhr war er es dann selbst, der die Tür öffnete. Beide Inspektoren standen gegenüber an der kleinen Rezeption. Dieses Mal war es Riwal, der herbeieilte.
»Monsieur le Commissaire, ist etwas passiert?«
Riwals Stimme war erregt. Kadeg war stehen geblieben, er blickte immer noch missmutig.
»Wer kennt sich hier im Ort am besten mit Malerei aus? Ich meine mit den Bildern der berühmten Maler, die hier waren.«
Riwal schaute erstaunt.
»Mit Kunst? Keine Ahnung. Ich denke Monsieur Beauvois. Vielleicht einer der Galeristen. Oder der neue Kunstlehrer der Schule hier. Wir müssten jemanden fragen.«
Dupin überlegte.
»Nein. Ich will einen Experten, der nicht aus Pont Aven kommt. Ich will jemanden von außerhalb.«
»Einen Kunstexperten von außerhalb? Worum geht es denn?«
Kadeg war an sie herangetreten und stand nun auch vor Dupin.
»Ja, es wäre durchaus hilfreich, wenn Sie uns einweihen würden.«
Ohne ein Wort zu sagen, verließ Dupin das Hotel. Er ging nach links, noch mal nach links und befand sich in der kleinen ruhigen Seitengasse. Er holte sein Telefon heraus.
»Nolwenn? Sind Sie noch da?«
»Monsieur le Commissaire?«
»Ich brauche Ihre Hilfe. Ich brauche einen Experten für Malerei. Die Schule von Pont Aven . Jemanden, der die Werke kennt, die Bilder. Niemanden aus Pont Aven.«
»Niemanden aus Pont Aven?«
»Nein.«
»Egal woher, nur nicht aus Pont Aven? Und eine Kapazität.«
»Ja.«
»Gut. Ich kümmere mich darum.«
»Ich brauche ihn sehr schnell.«
»Sie meinen sofort? Heute Abend noch?«
»Genau.«
»Es ist jetzt halb sieben.«
»So schnell es geht.«
»Soll er ins Central kommen?«
»Ja.«
Nolwenn legte auf.
Dupin blieb ein paar Augenblicke stehen. Er dachte nach. Dann ging er weiter die Gasse entlang, bis sie sich gabelte. Er lief dieses Mal direkt zum Fluss und über die albern verzierte Holzbrücke auf die andere Seite, zum Hafen. Dort blieb er stehen. Das Meer war zurückgekommen, die Flut hatte annähernd ihren höchsten Stand erreicht, die Boote standen stolz und aufrecht im Wasser. Er schaute auf die wippenden Schiffsmasten, wie sie wild durcheinander tanzten. Die kleinen Wellen erreichten sie nie gleichzeitig und auf dieselbe Weise, und so hatte jedes Boot seinen eigenen Rhythmus. Jedes tanzte für sich – und doch alle zusammen, in chaotischer Harmonie. Dupin mochte die Geräusche, die sie machten, die kleinen Glöckchen an der äußersten Spitze des Mastes.
Er ging ein Stück den Hafen entlang, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Wenn es so war, wie er es sich dachte, war es eine unglaubliche Sache, um die es ging. Eine große Geschichte. Er war sich darüber im Klaren, dass sie ziemlich fantastisch klang.
Erst am letzten Haus ganz am Ende des Hafens machte er kehrt und ging sehr langsam und mit einigen Umwegen zum Hotel zurück. Er dachte wieder und wieder alles durch.
Es hatte exakt zweiunddreißig Minuten gedauert, bis Nolwenn zurückrief. Marie Morgane Cassel hieß die Kunsthistorikerin. Aus Brest. Von der renommierten Université de Bretagne Occidentale . Nolwenn zitierte Artikel, Experten aus Paris. Sie war wohl die Beste. Nolwenn hatte über einige Stationen und unter Einsatz höchster polizeilicher Autorität – die Mordkommission – Cassels Handynummer erhalten und sie sofort am Apparat gehabt. Marie Morgane Cassel sei erstaunlich gelassen gewesen, hatte Nolwenn gesagt, obwohl sie ihr eigentlich ja nicht im Geringsten hatte sagen können, worum es gehe. Es musste doch alles ziemlich abenteuerlich anmuten. Nolwenn hatte ihr eröffnet, dass die Polizei sie dringend als Beraterin in einem Fall bräuchte, und dass sie, wenn sie einverstanden sei, zwei Kollegen aus Brest nach Pont Aven bringen würden, heute Abend noch. An einem Samstag. Gleich. Madame Cassel hatte nur gefragt, ob sie Sachen für die Nacht einpacken solle.
Riwal und Kadeg saßen im Frühstücksraum und aßen etwas, als Dupin wieder im Central eintraf. Madame Mendu hatte sich um sie gekümmert und regionale Köstlichkeiten zusammengetragen, Rillettes (Dupin liebte die aus Jakobsmuscheln am meisten), Pâté, bretonischen Ziegenkäse, verschiedenste Senfsorten. Baguette und eine Flasche roten Faugères. Dupin setzte sich zu ihnen und aß mit.
Nolwenn hatte Kadeg und Riwal verständigt, sie wussten, dass der Kommissar noch
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