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Bretonische Verhältnisse

Bretonische Verhältnisse

Titel: Bretonische Verhältnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Luc Bannalec
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zusammengewachsen und bildeten lange dunkelgrüne Tunnel. Hin und wieder schimmerte der Aven auf der linken Seite hellsilbern durch die Bäume hindurch, wie elektrisch aufgeladen. Das letzte Licht tauchte alles noch mehr in diese Märchenstimmung. Dupin kannte diese Landschaft und diese Stimmung mittlerweile gut (Nolwenn nannte sie »bretonische Aura«). Er fand immer, dass man, würde man in dieser Stimmung einem Zwerg, einer Elfe oder einem anderen Fabelwesen auf einer Lichtung begegnen, nicht einen Augenblick verwundert wäre.
    Kerdruc war malerisch gelegen, die flachen Hügel entlang des Avens fielen hier sanft ab, die Straße schlängelte sich zum Fluss hinunter, schöne alte Steinhäuser, auch ein paar prachtvolle Villen standen eher vereinzelt in üppiger Vegetation. Palmen, Zwergpalmen, Lärchen, Pinien, Zitronenbäume, Rhododendren, Buchen, Hortensien, hochgewachsene Buchenhecken, Bambus, Kakteen, Lorbeer, buschige Lavendelsträucher wuchsen wild durcheinander, und typischer konnte keine Vegetation sein für die Bretagne. Wie im nahen Port Manech unten an der Mündung des Avens hatte man hier das Gefühl, sich in einem botanischen Garten zu befinden. Der Aven lag breit und majestätisch im Tal, auf halbem Weg zum offenen Meer.
    Die Straße endete an einer Mole. Ein Dutzend Küstenfischer hatten hier ihre traditionellen bunten Boote liegen, ein paar Einheimische ihre Motorboote und einige der Urlauber ihre Segelboote. Die Flut kam, das Wasser stand schon hoch, es kam in ganz flachen, langen Wellen.
    Dupin parkte an der Mole, vielleicht zehn Autos hatten hier Platz, mehr nicht. Die Tische und Stühle des kleinen Restaurants standen direkt am Hafen, manche bedenklich nahe am Wasser. Ein Dutzend alter Platanen säumte den kurzen Quai. Es war nicht mehr viel los.
    Sie setzten sich an einen der Tische am Wasser. Ein Kellner erschien umgehend, drahtig, klein, wieselflink – Dupin mochte das an Kellnern. Die Küche war im Begriff zu schließen. Sie bestellten rasch, ohne große Diskussionen. Belon-Austern, die ein paar hundert Meter weiter aus dem Belon geholt wurden, und dann Seeteufel, gegrillt, nur mit fleur de sel , Pfeffer, Zitrone. Dazu gekühlten, ganz jungen Rotwein aus dem Rhônetal.
    »Das ist schön hier, wahnsinnig schön.«
    Marie Morgane Cassel ließ ihren Blick umherschweifen.
    Es war, empfand Dupin, etwas unwirklich, hier jetzt so zu sitzen; pittoresker, romantischer ließe sich kein Ort und kein Essen denken – und dies am Ende eines solchen Tages, mit einem zweiten Toten, einer Verhaftung, inmitten eines verworrenen Falles. Aber es stimmte, es war schön.
    Madame Cassel riss ihn aus seinen Gedanken.
    »Ich habe heute Abend einen Anruf bekommen. Von einer befreundeten Journalistin in Paris. Charles Sauré hat sich an einen Kollegen von ihr gewandt, den er wohl sehr gut kennt. Er hat von dem Gauguin erzählt. Eine exklusive Geschichte für den Figaro .«
    »Was?«
    »Ja. Sie werden es wahrscheinlich morgen schon bringen. Einen Artikel und ein Interview.«
    »Als eine große Sache?«
    »Vermutlich. Ich habe Ihnen ja schon gesagt: Das wird um die Welt gehen. Jede Zeitung wird daraus eine Meldung machen. Könnten Sie es – unterbinden?«
    »Ob wir der Zeitung die Berichterstattung untersagen könnten, aus polizeilichen Gründen?«
    »Ja?«
    »Nein.«
    Dupin musste den Kopf abstützen. Auch das noch. Das hatte ihm noch gefehlt. Er war so vertieft gewesen in diese seltsame Welt dieses seltsamen Falles. Aber es war klar. Sobald etwas von der Existenz dieses Bildes und seiner unglaublichen Geschichte an die Öffentlichkeit dringen würde, wäre es eine sensationelle Nachricht. Vor allem in Verbindung mit einem Mord. Mit zwei Morden vielleicht. Selbst wenn man noch nichts Genaueres wusste, aufregender ging es nicht.
    »Was wird er alles erzählen?«
    »Keine Ahnung. Meine Freundin wusste nur das.«
    Dupin schwieg einige Augenblicke.
    »Warum? Warum tut Sauré das? Heute Nachmittag hat er die ganze Zeit von Diskretion gesprochen. Dass er sich nicht einmal an die Polizei gewandt hat, als er von dem Mord an Pennec gehört hat, um die Vertraulichkeit zu wahren.«
    »Das ist ein gigantischer Coup für Sauré. Wahrscheinlich der Coup seines Lebens. Er ist der Entdecker eines unbekannten Gauguins. Wahrscheinlich des wichtigsten Bildes seines gesamten Werkes. Worum es ihm geht? Renommee, Ruhm, Ehre. Um seine Karriere. Sie kennen das doch.«
    »Ja. Sie haben recht.«
    Sie hatte wirklich recht. Das Essen war

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