Bretonische Verhältnisse
ganzen letzten Tage – »unzureichend informiert«. Die ganze Nomenklatura. Wie immer. Und er war froh, dass er spürte, dass es ihm heute Abend vollkommen egal war. Dass ihm heute Abend alle derartigen Dinge vollkommen egal waren. Er mochte nicht mehr. Er konnte nicht mehr.
Kadeg stand im Eingang des Hotels und starrte streng in die Nacht.
»Monsieur Pennec ist bisher nicht eingetroffen – er hält sich in keiner Weise an unsere Abmachung.«
»Wir erledigen das morgen, Kadeg. Wir gehen jetzt schlafen, alle.«
»Was?«
»Ja, wir gehen jetzt schlafen.«
»Aber …«
»Morgen, Kadeg. Bonne nuit.«
Kadeg machte Anstalten, noch einmal einen Protest zu versuchen, aber war dann wohl selbst zu müde.
»Gut, Monsieur le Commissaire. Ich werde Monsieur Pennec auf seinem Handy anrufen und ihm das mitteilen.«
»Lassen Sie es. Ich rufe ihn morgen früh selbst an.«
»Er wird denken, dass es uns nicht wichtig gewesen ist …«
»Er wird merken, was uns wichtig ist.«
»Ich hole nur noch meine Sachen.«
Kadeg verschwand in Richtung Rezeption. Dupin folgte ihm.
»Wissen Sie von dem kleinen Zimmer oben, neben dem von Pennec, in dem er sein kleines Archiv aufbewahrt hat und wo auch ein paar Bilder stehen?«
»Ja, natürlich.«
Dupin überlegte.
»Nein, nein – alles morgen. Dieser Tag ist zu Ende.«
Jetzt schaute Kadeg sogar etwas erleichtert.
»Ich gehe, Monsieur le Commissaire. Montner wird diese Nacht die Wache übernehmen.«
»Montner?«
»Ja, ein Kollege hier aus Pont Aven. Ein Kollege von Bonnec und Arzhvaelig.«
»Gut.«
»Gute Nacht.«
Beide verließen das Hotel, Kadeg bog nach rechts ab, Dupin nach links.
Um kurz vor halb eins parkte Dupin seinen Citroën in einer der kleinen Straßen nahe seines Hauses, der große Parkplatz war wegen des morgen beginnenden Festival des Filets Bleus bereits gesperrt. Er lief die Straße zum Quai hinunter, direkt links lag sein Haus. Er blieb noch ein paar Augenblicke an der gewaltigen Quaimauer stehen, die die ganze neue Stadt umgab, und schaute auf die unendliche Schwärze des nächtlichen Atlantiks. Man konnte das Meer nicht sehen, natürlich nicht, aber man spürte es, sehr stark. Im Westen war der Phare de l’île aux moutons von den Îles Glénan zu sehen, ein scharfer, mächtiger Lichtkegel, der rasch, aber ohne Hektik kreiste und in den Himmel stach.
Eine Viertelstunde später schlief Dupin.
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DER VIERTE TAG
Dupin bestellte seinen dritten petit café , von den ersten beiden hatte er keinerlei Wirkung gespürt. Er war hundemüde und seit einer Stunde auf den Beinen, es war jetzt Viertel nach sieben. Auch die sehr frische Brise heute Morgen, die ihn auf dem Weg ins Amiral durchgepustet hatte, hatte nicht geholfen. Er war um halb vier aufgewacht und dann nicht wieder richtig eingeschlafen. Er hatte dieses unbestimmte Missbehagen, die Gespräche des vergangenen Tages waren ihm wieder und wieder durch den Kopf gegangen. Er hatte etwas übersehen. Für ein paar Momente, so sein Gefühl, war er der Wahrheit ganz nahe gewesen. Aber er hatte sich verwirren lassen. Und er hasste es, wenn ihm das passierte.
Er war immer noch elendig müde. Und grimmig. Der Figaro hatte die Geschichte gebracht. Groß, ja. »Eine Sensation: Ein unbekannter Gauguin aufgetaucht!« So die Überschrift auf der Titelseite, »Über hundert Jahre hing das Bild unbemerkt in einem Restaurant an der Wand« die Unterzeile. In ein paar Zeilen wurde die Story zusammengefasst und dann auf Seite drei verwiesen. Die bestand zur einen Hälfte aus einem Interview mit Charles Sauré und seinem Foto, zur anderen Hälfte aus der längeren Version der Geschichte und einer größeren Abbildung des bekannten Bildes.
Interessant waren die Akzentuierungen der Geschichte durch Sauré. Natürlich war es Charles Sauré, dem die Welt dieses Bild verdankte. Ein provinzlerischer Hotelier, so stand es zwar nicht da, aber so las man es, hatte es hundert Jahre hängen lassen und eigentlich keine Ahnung von der Dimension des Bildes gehabt, das da in kriminell fahrlässiger Weise den Gefahren einer Beschädigung ausgesetzt worden war. Und natürlich war es jetzt das »wahrscheinlich zentrale Werk des epochalen Œuvres Gauguins – und darüber hinaus eines der entscheidenden Bilder in der Geschichte der modernen Malerei«.
Es war alles ekelhaft. Sauré berichtete, dass er das Bild im Hotel gesehen habe. Und dass es »unter Umständen sogar eine Rolle gespielt hat in dem Mordfall an dem Hotelier, dem Besitzer
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