Brezeltango
Coming-out.
Es war erst kurz nach halb zehn und die Reinsburgstraße lag in ungewöhnlicher, nahezu verkehrsloser Ruhe da. Nach einem nächtlichen Gewitter war die Luft tropisch feucht. Supi, dass ich zu so nachtschlafender Zeit unterwegs war und den Ozonwerten ein Schnippchen schlug! Nachdem ich die Rötestaffel und die Hasenbergsteige hinaufgeklettert war, war ich fix und fertig. Der Schweiß lief mir den Rücken hinunter. Leon hatte schon recht, ein bisschen mehr Flachland würde Stuttgart nicht schaden. Ich war schon sehr gespannt auf den Norden. Vielleicht würden wir ja eines Tages dort hinziehen?
Auf dem Blauen Weg kamen mir Spaziergänger und Jogger entgegen, die ihre morgendliche Runde bereits absolviert hatten. Ich nickte ihnen beiläufig zu, schließlich war ich eine von ihnen, auch wenn unser Outfit sehr unterschiedlich war und meines eher unter die Kategorie »retro« als »modisch« fiel. Ich setzte mich auf eine Bank, nur für einen Moment, bis ich wieder Luft bekam, ich hatte ja noch sechs Tage Zeit, um zu trainieren, da brauchte ich wirklich nichts zu überstürzen. Ich fühlte mich großartig! Joggen tat einfach gut.
Neben mir saß eine rundliche Frau, die die Gummipuffer ihrer Nordic-Walking-Stöcke sorgfältig mit einem Lumpen abwischte. Sie ließ den Lumpen in einer Bauchtasche verschwinden und machte Platz für zwei alte Frauen, die sich schnaufend niederließen.
»I han di gar net gsäh beim Guschdav.«
»I han net kenna, i han zom Doktr missa. Sen viel Leit komma?«
»Obacha viel. Beim Kondoliera uff ’m Häslacher Friedhof ben i faschd a halbe Schdond ogschdanda. On ’s isch so a arg scheene Leich 7 gwä.«
»I han mr’s uffgschrieba, weil i han doo so a Heftle, fir wenn ebbr stirbt. Em Altr vergisst mr halt oifach so schnell. Oi Heftle fir Verwande ond oi Heftle fir Bekannde. Wemmr do noch ’rer Zeit dren romblädderd on nochguckt, wer gschdorba isch, also des isch so interessant! Jetz isch dr Otto ogschlaga.«
»I han’s gsäh. I wär heit scho au en d’ Kirch, aber der neimodische Pfarrer …«
Ich fand, es war noch ein bisschen zu früh am Morgen, um über Begräbnisse nachzudenken, stand rasch auf und begann zu laufen. Nach wenigen Minuten klebte mir Leons T-Shirt am Rücken fest, aber es war ein erhebendes Gefühl, so sportlich zu sein. Es reichte eigentlich, die Füße leicht zu lupfen. Ohne Leons Ratschläge, aber umweht von seiner T-Shirt-Aura, klappte es viel besser. An der Gabelung hinter der Schranke wählte ich den obersten der drei Wege. Hier blockierte eine schwatzende Gruppe von vier Spaziergängern mit einer unüberschaubaren Menge Hunde in verschiedenen Größen und Modellen die Strecke. Hechelnd und bellend lief die Hundemeute um ihre Besitzer herum. Ich drückte mich vorsichtig vorbei. Die Hunde beeindruckten mich nicht. Ich fühlte mich großartig. Das mussten die Endorphine sein, von denen Leon immer schwärmte. Wahnsinn, es gab sie also doch! Locker nahm ich die Steigung und bog nach links ab auf einen breiten Weg. Ich strahlte jeden an, der mir entgegenkam, Mütter mit Kinderwägen, Radfahrer, sogar einen riesigen, zotteligen Hund, der mitten auf dem Weg saß und sich sichtlich langweilte, weil sich sein Frauchen ein paar Meter weiter angeregt mit einem anderen Hundebesitzer unterhielt. Ich blickte tief in seine warmen Hundeaugen.
Ups, vor lauter Hund hatte ich nicht aufgepasst und war in einen Mückenschwarm gerannt. Ich verschluckte mindestens zwei Mücken und musste husten. Zum Glück war ich keine Vegetarierin. Ich schlug wild um mich und der Rest der Mücken blieb tot auf meiner Brust hängen. Plötzlich hörte ich hinter mir Gebell. Das war ja an sich nichts Beunruhigendes, nur leider klang das Gebell wütend und kam ziemlich rasch näher. Ich drehte mich um. Der Vierbeiner, der eben noch so friedlich ausgesehen hatte, war mir auf den Fersen! Seine schwarzen Zotteln wehten. Leider wirkte er jetzt überhaupt nicht mehr friedlich. Vielmehr sah er so aus, als hätte er großen Hunger. An mir war doch gar nichts dran! Panisch beschleunigte ich mein Tempo.
»Klaus-Pedr, du kommsch sofort hierher!«, hörte ich eine gellende Frauenstimme.
Das ließ Klaus-Peter völlig unbeeindruckt. Der Abstand zwischen uns verringerte sich. Ich konnte nicht schneller rennen! Ich schlug einen Haken nach links auf einen kleinen Waldpfad. Vielleicht ließ sich der Köter reinlegen und rannte geradeaus? Leider war der Hund nicht doof und auch deutlich besser in Form als
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