Brezeltango
nachdenken … Hoffentlich war niemand im Hausflur!
Im ersten Stock traf ich Enrico Silicone aus dem zweiten Stock. Im dritten Stock traf ich Frau Müller-Thurgau, die mit Herrn Tellerle tratschte. Großartig. Sie alle blickten leicht pikiert auf den vollgesabberten Mückenfriedhof auf meiner Brust. Frau Müller-Thurgau zog hörbar die Luft ein. Ich bemühte mich, so distanziert zu gucken wie Klaus-Peter, und ging mit hocherhobenem Kopf an ihnen vorbei. Kaum war die Tür hinter mir ins Schloss gefallen, riss ich mir das stinkende Hemd vom Leib, stopfte es in den Müll unter der Spüle und stürzte unter die Dusche. Ich seifte mich dreimal von oben bis unten ein und wusch mir die Haare. Dann trocknete ich mich ab, schloss die Augen und konzentrierte mich. Ich hatte immer noch Hundegestank in der Nase, aber das war wahrscheinlich Einbildung. Ich klaubte meine Sachen zusammen. Ohne Leon war es seltsam, in seiner Wohnung zu sein. Ich sehnte mich nach Lila und meinem Zimmer.
Eine knappe Stunde später bog ich in die Neuffenstraße ein. Direkt vor unserer Tür parkte ein Porsche Cabrio. Komisch. Eigentlich war das keine Gegend für Cabrio-Angeber. In diesem Augenblick kam ein rotblonder, hochgewachsener Mann in einem rosa Poloshirt, heller Jeans und Lederslippern aus dem Haus. Er machte sich nicht die Mühe, die Autotür zu öffnen, sondern sprang mit einer lockeren Flanke in das Cabrio. Au Mann, wie peinlich war das denn für einen Kerl, der mindestens vierzig war? Er winkte mir fröhlich zu und rief: »Tschüssikowsky!« Dann ließ er den Motor aufheulen wie ein achtzehnjähriger türkischer Halbstarker, bevor er viel zu schnell Richtung Landhausstraße davonbrauste. Ich starrte ihm verwirrt hinterher. Wer war der Typ? Und wieso kam er aus unserem Häuschen? Ich hatte ihn noch nie in meinem Leben gesehen, so viel war sicher.
Ich schloss die Haustüre auf und hätte beinahe Lila umgerempelt. Sie stand bewegungslos da wie eine Wachspuppenfigur von Madame Tussaud und starrte mit gläsernem Blick ins Nichts. Das war noch nicht alles. Sie war splitterfasernackt, ihre Wangen waren gerötet und ihr Haar zerzaust.
»Lila«, rief ich alarmiert. »Geht’s dir gut? Alles in Ordnung? Wer war das? Und wieso bist du nackt?«
Lila blickte verträumt in die Ferne. Dann seufzte sie. »Das war … mein Zahnarzt.« Ihre Stimme war eine Oktave höher als sonst und sie schien mich gar nicht wirklich wahrzunehmen.
»Und was macht der hier?«
»Hausbesuch.«
Ein Zahnarzt, der Hausbesuche machte? Am Sonntagmorgen? Waren die Krankenkassen nicht in der Dauerkrise?
»Du bist doch nicht mal privat versichert!«
»Hausbesuch nur bei Juliane«, sagte Lila.
Juliane war Lilas richtiger Name. Offensichtlich litt sie unter einem sprachlichen Rückfall in die Kindheit.
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Doch. Wir sind uns bei der Wurzelbehandlung nähergekommen.«
Ich malte mir aus, wie Lila vor sich hin röchelnd im Behandlungsstuhl hing und ihre Augen immer tiefer in den Augen des Zahnarztes über dem Mundschutz versanken, während die Zahnarzthelferin zusah. Sehr romantisch. Ich nahm sie am Arm und bugsierte sie in die Küche auf einen Stuhl. Lila ließ sich wie eine Marionette dirigieren.
»Ich mache uns einen Kaffee und dann erzählst du von Anfang an.«
Ich setzte Wasser auf und gab Pulver in den Kaffeebereiter. Lilas üppige Brüste hingen schwer auf der Tischplatte. Sie blickte immer noch durch mich hindurch.
»Wie alt ist er?«
»Keine Ahnung. Um die vierzig, schätze ich mal. Was spielt das für eine Rolle?«
»Er ist Zahnarzt, viel älter als du, fährt Porsche und sagt Tschüssikowsky und da fragst du mich, was das für eine Rolle spielt?«
»Ich mag ihn nicht, weil, sondern obwohl er Zahnarzt ist. Dass du dich so von äußeren Dingen leiten lässt, wundert mich«, sagte Lila langsam.
»Es ist nur … Ich hätte eher gedacht, du suchst dir einen Stuttgart-21-Gegner mit Migrationshintergrund oder jemand, der unter widrigsten Bedingungen in Afrika Solaranlagen baut.«
»Da hast du’s«, rief Lila triumphierend aus. »Als Teenie hat er seine Wochenenden auf der Mutlanger Heide im Friedenscamp verbracht und wir kamen ins Gespräch, weil er den grünen ›Oben bleiben‹-Button der S21-Gegner an seinem weißen Zahnarztkittel trug.«
Wie konnte man bei einer Zahnbehandlung ins Gespräch kommen, ohne in den Speichelsauger zu beißen?
»Mir fiel dann ein, dass ich ihn schon öfters bei den Demos gesehen hatte.«
»Okay, okay«,
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