Brian Lumleys Necroscope Buch 3: Blutmesse (German Edition)
Album, sorgsam in einen alten Pullover gewickelt, enthielt verblichene Briefe, die sein Vater an ihn geschrieben hatte.
Harry hatte all diese Dinge auf sich wirken lassen.
Er hatte in Simmons’ Bett geschlafen, hatte seine Küche und sein Badezimmer benutzt, sogar seinen Morgenmantel. Er fand mehrere Telefonnummern von verflossenen Freundinnen, rief sie an und fragte sie über Jazz aus. Es stellte sich heraus, dass sie ein breites Spektrum abdeckten und offenbar nichts miteinander gemein hatten als ihre offensichtliche Intelligenz und die Tatsache, dass sie einhellig der Meinung waren, Jazz sei »ein echt netter Kerl«. Harry glaubte das langsam auch, und wenn bisher Michael J. Simmons nur ein Mittel zum Zweck gewesen war – eine mögliche Spur zur Entdeckung von Harrys Familie –, dann war er jetzt zu einer eigenen Persönlichkeit geworden. Harrys Besessenheit erstreckte sich nicht mehr nur auf seine persönlichen Belange, sondern er wollte Jazz auch um seiner selbst willen finden.
Als es so weit gekommen war, hatte Harry beschlossen, dass er ein bisschen näher an Simmons selbst herankommen müsste. Und wenn schon nicht an den realen Menschen, dann wenigstens an sein metaphysisches Echo. Simmons existierte in diesem Universum nicht mehr, aber er hatte einmal existiert, in der Vergangenheit ...
In den Tagen seiner Körperlosigkeit war Harry in der Lage gewesen, in die Vergangenheit zu reisen und sich dort zu manifestieren. Er hatte die Fähigkeit gehabt, eine geisterhafte Darstellung von sich selbst auf den vergangenen Ereignishorizont zu projizieren. Aber jetzt, wo er wieder über einen Körper verfügte, war ihm das nicht mehr möglich; es würde unvorstellbare Paradoxe hervorrufen, vielleicht sogar die Struktur der Zeit selbst beschädigen. Er konnte noch immer in der Zeit reisen, aber während er das tat, durfte er nie versuchen, das metaphysische Möbius-Kontinuum zu verlassen und den anderen Zeitstrom zu betreten.
Aber das war auch nicht notwendig. Um bei diesem Vorhaben sein Ziel zu erreichen, würde die Zeitreise selbst genügen. Und so trat er in das Möbius-Kontinuum ein, fand eine Vergangenheitstür und reiste ein wenig zurück, annähernd zwei Jahre in die Vergangenheit. Harry änderte zwar seine Position in der Zeit, nicht aber im Raum; er befand sich währenddessen physisch immer noch in Jazz Simmons’ Wohnung. Deswegen wusste er auch zweifelsfrei, als er seiner Meinung nach weit genug in die Vergangenheit zurückgereist war, die Richtung geändert hatte und sich wieder auf die Gegenwart zubewegte, dass der leuchtend blaue Lebensfaden, der neben ihm verlief, der von Jazz Simmons sein musste. Denn schließlich hatte er ihn in Simmons’ Wohnung aufgespürt. Und indem er diesem Lebensfaden in die Zukunft folgte, würde er sehen können, ob es irgendeine Gemeinsamkeit zwischen Simmons’ Verschwinden und dem seiner Frau und seines Sohnes gab.
Der Beweis ließ nicht lange auf sich warten; das Ereignis trat genau zu dem Zeitpunkt ein, als Simmons laut Darcy Clarke aus dieser Welt getreten war. Obwohl er darauf gewartet hatte, sah Harry es nicht kommen, da war nur ein schmerzhaft greller, weißer Lichtblitz und danach ... war er allein. Jazz Simmons war verschwunden – wohin auch immer. Wahrscheinlich dahin, wohin auch Harry junior und Brenda vor ihm verschwunden waren.
Harry brauchte nicht zurückzureisen, um alles noch einmal ablaufen zu lassen; er hatte dieses Ereignis schon unzählige Male gesehen, und es war immer das Gleiche. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Simmons in einem einzigen weißen Blitz verschwunden war, während das Verschwinden von Harry junior und seiner Mutter von einer doppelten Explosion begleitet gewesen war. Aber was diese letzten Lichtblitze bedeuteten, konnte Harry nicht einmal erahnen. Er wusste nur, dass vor diesem weißen Blitz blaue Lebensfäden der Zukunft entgegenströmten, und dass sie danach nicht mehr existierten. Jedenfalls nicht in diesem Universum.
Was ihn dann zu seinen nächsten Gesprächspartner führte: Möbius selbst.
August Ferdinand Möbius, ein deutscher Mathematiker und Astronom, der von 1790 bis 1868 gelebt hatte, lag in seinem Grab auf dem Friedhof von Leipzig. Zumindest befand sich sein Staub dort, was für den Necroscopen Harry Keogh ein und dasselbe bedeutete. Harry hatte sich bereits vorher mit Möbius getroffen, um das Geheimnis des Möbius-Kontinuums zu lüften. Zu Lebzeiten hatte Möbius es entdeckt, obwohl er selbst das
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