Bride 02 - Tempel Der Liebe
sieht es im Schloss eines englischen Duke geradezu ärmlich aus.«
Gavin lachte leise. »Da kennen Sie sich besser aus als ich. Ich glaube, Ihre Landsleute haben einfach das Bedürfnis, stilvoll zu feiern. Gerade weil sie so weit weg von zu Hause sind.«
Am anderen Ende des Raumes sah Kyle eine ganze Schar Chinesen, die in schlichte, schwarze Gewänder gekleidet waren. »So viele Diener wird man doch sicherlich nicht brauchen.«
»Es ist Tradition, dass hinter jedem Stuhl ein Diener steht. Ich habe Jin Kang gebeten, sich um Sie zu kümmern. Wenn Sie irgendwelche Fragen zu den Bräuchen oder zum Protokoll haben, kann er sie Ihnen beantworten.«
Jin kannte vielleicht die Antworten, aber Kyle hielt es für klüger, Fragen zu vermeiden. Er dachte immer noch mit Unbehagen daran, wie er auf den jungen Mann reagiert hatte.
»Lord Maxwell, erlauben Sie mir, Sie in der English Factory willkommen zu heißen.« Ein stämmiger Mann mit beginnender Glatze trat aus einer Gruppe auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Es war William Boynton, der Leiter der Ostindien-Handelsgesellschaft in Kanton. Als Gastgeber begleitete er Kyle durch den Raum und stellte ihn den anderen Herren vor. Kyle blickte sehnsüchtig hinaus auf den Fluss. Dann setzte er sich an den Tisch, um seine Pflicht zu tun. Adel verpflichtet - das hatte ihm sein Vater schon früh beigebracht. Wie langweilig.
»Passen Sie auf Maxwell auf, Jin«, hatte Gavin vor dem Bankett zu Troth gesagt. »Dieser Mann ist einfach zu neugierig. Außerdem hat er vor nichts Angst.«
Das war ihr auch schon aufgefallen - Maxwell würde gewiss bald Unannehmlichkeiten bekommen. Während die Fan-qui sich an die lange Tafel setzten, betrachtete sie prüfend die Männer. Manche waren weise, erfahrene Kaufleute, wie ihr Vater. Andere waren faule Mitläufer, die sich auf Kosten Dritter bereicherten und doch das Land und die Menschen verachteten, denen sie diesen Reichtum zu verdanken hatten. Sie kannte sie alle - und keiner von ihnen kannte sie.
Sie nahm ihren Platz hinter Lord Maxwell ein. Er saß auf dem Ehrenplatz, rechts neben Boynton. Er sah sie kommen und nickte ihr kurz zu. In seinen Augen lag die gleiche Neugier und die gleiche Unsicherheit, die auch sie verspürte. Es war ein kleiner Trost, dass er ebenso beunruhigt zu sein schien.
Was war es, was sie an diesem Maxwell so faszinierte?
Er war weder der größte Mann unter den Anwesenden, noch besonders elegant gekleidet. Und vielleicht war er noch nicht einmal der bestaussehende, da Gavin Elliott auch anwesend war. Trotzdem besaß Maxwell eine bezwingende Ausstrahlung und eine natürliche Autorität. Er stellte selbst Boynton in den Schatten, obwohl dieser der Tai-pan der Handelsgesellschaft und damit der mächtigste Fan-qui-Kaufmann von ganz Kanton war.
Das Essen war eine langwierige Angelegenheit. Es wurden riesige Braten, Puddings und andere englische Gerichte aufgetragen. Troth hatte dabei ausreichend Zeit, Maxwells Hinterkopf zu studieren. Merkwürdigerweise gefiel es ihr, die leichten Wellen in seinem dichten, braunen Haar und seine kräftigen, breiten Schultern zu betrachten. Immer wieder musste sie an das merkwürdige Zucken denken, das sie beide durchfahren hatte. Gedankenlos hatte sie seine Hand genommen, um ihm zu zeigen, wie man einen Pinsel hielt. Jetzt spielte ihr die Fantasie einen Streich, weil sie so lange hinter seinem Stuhl stand, ohne sich ablenken zu können.
Als Portwein und philippinische Zigarren gereicht wurden, nahmen die Gespräche eine unschöne Wendung. Es begann damit, dass einige Betrunkene sich über die Acht Gesetze beschwerten. Die Freiheit der europäischen Kaufleute sei zu stark eingeschränkt, riefen sie. Troth beachtete sie kaum. Sie hatte das alles schon so oft gehört.
Dann ergriff Caleb Logan, ein Schotte, der früher bei ihrem Vater angestellt gewesen war, das Wort: »Sie sollten für eine britische Firma arbeiten, Maxwell, und nicht für eine neue amerikanische Gesellschaft.« Obwohl sein Tonfall scherzend war, lag eine gewisse Schärfe in seinen Worten.
»Die Handelsgesellschaft kann ein wenig Konkurrenz gut vertragen«, erwiderte Maxwell freundlich. »Außerdem gefällt mir Elliotts Firmenphilosophie.«
»Seine Philosophie?« Logan grinste. »Wir wollen alle so viel Geld wie möglich verdienen. Das ist unsere Philosophie.«
Maxwell erwiderte nichts, dafür meldete sich aber ein angetrunkener Engländer namens Colwell zu Wort. »Meinen Sie mit Philosophie die Tatsache, dass
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