Bride 02 - Tempel Der Liebe
respektierten. Dieses Land war voller Gegensätze. »Es ist doch sicher ein Unterschied, ob Sie mir das Alphabet beibringen oder ob Sie mir die Sprache beibringen.«
Jin schüttelte den Kopf. Sein dicker Zopf baumelte hin und her. »Wir haben kein Alphabet.«
»Kein Alphabet? Was bedeutet denn das, zum Beispiel?« Kyle deutete auf ein Schriftzeichen.
»Das ist die Bitte um die geschätzte Aufmerksamkeit des Händlers.« Jin legte den Pinsel auf ein Bänkchen aus Porzellan. Er hatte die Stirn gerunzelt und dachte angestrengt nach, wie er den Sachverhalt am besten erklären konnte. »In Ihrer Sprache entspricht jeder Buchstabe einem Laut. Aneinandergereiht ergeben die Laute ein ganzes Wort. Im Chinesischen ist jedes Schriftzeichen ein ... ein Begriff.
Zusammen ergeben sie neue Begriffe. Es ist sehr ... raffiniert.«
»Ja, wirklich faszinierend. Und so anders. Wie viele Schriftzeichen gibt es denn?«
»Viele, viele.« Jin berührte den Abakus. »Zehntausende.«
Kyle pfiff leise. »Das scheint mir ein recht kompliziertes System zu sein. Man braucht sicher viele Jahre, um lesen und schreiben zu lernen.«
»Es wird nicht von jedem erwartet, dass er eine so große Kunst beherrscht. Kalligraphie, Dichtung und Malerei sind die Drei Vollkommenheiten. Gelehrte und Dichter zeichnen sich dadurch aus, dass sie alle drei beherrschen.«
»Zählen Sie auch zu den Gelehrten, da Sie schreiben können?«
»O nein. Ich habe nicht lange genug studiert, um die Gelehrtenprüfung zu bestehen. Ich beherrsche nur die Fähigkeiten eines Angestellten.« Sein Tonfall ließ erkennen, dass er Kyles Frage töricht fand.
»Würden Sie mir ein Schriftzeichen beibringen? Das ist sicher nicht so schlimm. Ich würde dann ja immer noch nicht schreiben können.«
Jins Mund zuckte leicht. War das etwa ein unterdrücktes Lächeln? »Sie sind sehr beharrlich, Sir.«
»Sicher.« Kyle betrachtete das Tintentäfeichen. Es war achteckig und auf einer Seite mit einem Drachen verziert. »Geben Sie lieber gleich nach, sonst belästige ich Sie so lange, bis Sie es mir zeigen.«
Ja, Jin versuchte verzweifelt, ein Lächeln zu unterdrücken. »Dagegen kann ein bescheidener Angestellter wie ich natürlich nichts tun, mein Herr.« Er legte ein leeres Blatt Papier auf den Tisch. »Schauen Sie zu, während ich das Zeichen für >Feuer< schreibe. Die Striche müssen in der richtigen Reihenfolge durchgeführt werden.« Zweimal schrieb er das gleiche, sternförmige Schriftzeichen. Ganz langsam, damit die Züge deutlich zu erkennen waren. Dann frischte er die Tinte auf und reichte Kyle den Pinsel. »Versuchen Sie es.«
Selbst ein wohlwollender Beobachter konnte bei Kyles Versuch nicht von Erfolg sprechen. »Es ist schwieriger, als es aussieht.« Er versuchte es noch einmal. Die Form des Zeichens war annähernd richtig, aber ihm fehlte die Eleganz von Jins Schrift.
»Sie halten den Pinsel nicht richtig. Sie dürfen ihn nicht wie einen englischen Federhalter anfassen. Sondern senkrecht. So.« Jin legte seine Hand auf Kyles Hand und veränderte den Winkel des Pinsels.
Ein merkwürdiges Kribbeln ging durch Kyles Körper. Was, zum Teufel, war das? Auch Jin musste etwas gespürt haben, weil er seine Hand schnell wieder wegnahm.
War dieser Junge ein heiliger Mann, wie der in Indien? Sri Anshus Blick konnte Blei zum Schmelzen bringen und vielleicht brannten in Jin Kangs Innerem ähnliche Feuer. Oder beruhte diese unerklärliche Reaktion auf etwas anderem, etwas, woran er nicht zu denken wagte?
Kyle war ziemlich verwirrt. Aber er zwang sich, so zu tun, als sei nichts geschehen. »Der Pinsel sollte senkrecht gehalten werden, ja?«
»Ja.« Jin schluckte. »Und lockerer.«
Kyle schrieb das Schriftzeichen noch ein paar Mal. Durch die veränderte Pinselhaltung gelang es ihm, feinere Striche zu machen, aber er hatte noch viel zu lernen.
Wieso er so merkwürdig auf Jin Kang reagierte, wusste er immer noch nicht.
Ganz im Gegenteil.
KAPITEL 4
England, Dezember 1832
Troth erwachte in einem weichen Bett, das nach Lavendel duftete. Draußen war es dunkel, aber im Kamin zu ihrer Rechten knisterte ein gemütliches Feuer. Zum ersten Mal war ihr wieder richtig warm. Es schien ihr, als wäre es Monate her, dass sie nicht fror.
Eine vertraute Stimme fragte sie leise: »Wie geht es Ihnen?«
Sie drehte den Kopf nach links und erblickte den Mann, dessen Erscheinung sie bei ihrer Ankunft in Warfield Park so erschreckt hatte, dass sie in Ohnmacht gefallen war. Kyle. Aber jetzt,
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