Bride 02 - Tempel Der Liebe
nachvollziehbar. Obwohl Kyle von China fasziniert war, würde es ihn wahnsinnig machen, ein halbes Jahr lang ein derartig eingeschränktes Leben führen zu müssen. Nach nur drei Tagen sehnte er sich nach einem ausgedehnten Galopp über offenes Land. Damit würde er sich gedulden müssen, bis er wieder zu Hause auf Dornleigh war. Während er sich einen Weg durch das vollgepackte Lagerhaus bahnte, konnte er die kühle Brise geradezu im Gesicht spüren. Ja, es war wirklich an der Zeit, nach Hause zurückzukehren.
Aber ihm blieb immer noch ein Monat in Kanton. Selbst wenn er den Tempel von Hoshan nicht besichtigen konnte, musste er versuchen, so viel wie möglich über den Handel mit China zu lernen. Wenn er den Grafentitel erbte und seinen Sitz im Oberhaus einnahm, würde er über Handelsfragen und Außenpolitik Bescheid wissen müssen. Es gab nichts Besseres, als über Erfahrungen aus erster Hand zu verfügen.
Opium war ein wichtiges Gut im Handel mit China. Die Öffentlichkeit in England missbilligte die Tatsache, dass britische Kaufleute mit Drogen handelten. Kyle war der gleichen Meinung. Einer der Hauptgründe, warum er Elliott House vor dem Bankrott gerettet hatte, war die Tatsache, dass die amerikanische Firma eine der wenigen war, die nicht in den Opiumhandel verwickelt waren.
In Amerika wiederum gab es Häute und Ginseng und andere Produkte, die für die Chinesen interessant waren. Kaufleute anderer Nationen hatten da weniger Glück. In China wollte man keine Waren kaufen, die in Europa hergestellt waren - aber Opium aus der Türkei oder aus der britischen Kolonie Indien war ein begehrtes Gut.
Er betrat das Kontor. Dort arbeiteten etwa ein halbes Dutzend Angestellter. Die meisten von ihnen waren portugiesischer Abstammung. Jin Kang saß in einer Ecke und arbeitete mit einem Abakus. Das Ding sah aus wie ein Kinderspielzeug. Angeblich war es aber sehr nützlich, um Berechnungen zu machen.
Kyle hätte sich gern einmal erklären lassen, wie es funktionierte. Leise näherte er sich Jin. »Wie geht es Ihrem Knöchel, Jin Kang?«
Jin blickte erschreckt auf, bevor er den Blick wieder auf den Abakus senkte. Seine Augen waren tatsächlich braun und nicht schwarz. »Gut, Sir.« Er sprach so leise. Seine Stimme war kaum hörbar.
Kyle nahm einen leeren Stuhl und setzte sich an den Schreibtisch. »Mister Elliott hat mir einen Brief mitgegeben und gebeten, dass Sie ihn ins Chinesische übersetzen.«
»Gewiss, Sir.« Jin legte den Abakus weg und holte Papier und Schreibgeräte aus einer Schublade im Schreibtisch. Kyle sah interessiert dabei zu, wie der junge Mann ein schwarzes Täfelchen nahm und es auf einem Stein zerrieb. Das Ganze mischte er mit Wasser und machte daraus schwarze Tinte.
Als Jin bereit war, las Kyle ihm langsam den Brief vor. Der junge Mann benutzte einen Pinsel statt einer Feder oder eines Füllers. Er schrieb eine Reihe komplizierter Symbole auf das Papier. Er begann oben rechts und arbeitete sich nach links vor. Ab und zu hielt er inne und fragte nach der genauen Bedeutung eines Wortes oder einer Redewendung. Er war sehr gewissenhaft, auch wenn sein Englisch holprig und langsam klang.
Als der Brief fertig war, sagte Kyle: »Die chinesische Schrift ist so anders als die europäische. Sie ist auch so elegant.«
»Kalligraphie ist eine große Kunst. Meine Schrift ist sehr hässlich. Nur ausreichend für Handel.«
»Ich finde sie aber sehr schön. So viele verschiedene Buchstaben. Können Sie mir das Alphabet beibringen?«
»Es ist verboten, einem Fan-qui Chinesisch beizubringen.« Jin hielt den Blick gesenkt. Er war in der Lage, während der gesamten Dauer eines Gesprächs kein einziges Mal aufzublicken.
»Guter Gott, warum denn?«
»Es steht mir nicht zu, die Gründe des Himmlischen Kaisers zu erraten.«
Zweifellos ließ sich das Verbot mit der allgemeinen Abneigung der Chinesen gegenüber Ausländern erklären. Kyle war erst drei Tage in Kanton. In dieser Zeit hatte er bereits gelernt, dass selbst der ärmste Chinese auf die fremden Teufel herabschaute. Es war amüsant, sich vorzustellen, wie wütend ein steifer, englischer Aristokrat wäre, wenn er wüsste, dass ein verlotterter chinesischer Bootsmann sich ihm überlegen fühlte.
Allerdings waren alle Chinesen, mit denen Kyle bisher persönlich zu tun gehabt hatte, von ausgesuchter Höflichkeit gewesen. Er hatte auch beobachtet, dass die kantonesischen Kaufleute und die Fan-qui, mit denen sie Geschäfte machten, einander ehrlich
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