Bride 02 - Tempel Der Liebe
als sie ihn aus der Nähe sah, merkte sie, dass er nicht Kyle war. Er sah ihm nur unglaublich ähnlich. »Sind Sie Lord Grahame?«
Er nickte. »Und Sie sind Lady Maxwell, die Frau meines Bruders. Möchten Sie etwas zu essen oder zu trinken, bevor wir uns dann unterhalten? Ein Glas Wasser vielleicht?«
Ihr wurde bewusst, dass sie seit dem frühen Morgen nichts zu sich genommen hatte. »Ein Glas Wasser bitte.«
Er nahm einen Krug von dem Tisch, der neben ihrem Bett stand, und schenkte ihr ein Glas Wasser ein. Dann türmte er ein paar Kissen hinter ihr auf, damit sie sich aufsetzen und trinken konnte. Seine Hände waren gut, aber es waren nicht Kyles Hände.
Sie hatte großen Durst und trank das Glas in einem Zug aus. Das Schwindelgefühl legte sich. »Er hat mir nicht gesagt, dass Sie Zwillinge sind, Lord Grahame.«
»Kein Wunder, dass Sie sich bei meinem Anblick erschreckt haben.« Grahame setzte sich wieder hin. »Viele Menschen fasziniert der Gedanke, eineiige Zwillinge kennen zu lernen. Sie vergessen dann oft, dass auch wir Individuen sind. Deshalb haben wir schon früh gelernt, es nicht zu erwähnen, es sei denn, es gibt dafür einen guten Grund.«
Und Kyle hatte wahrscheinlich keinen Grund gehabt, das Thema zu erwähnen. Am Ende hatten sich die Ereignisse ohnehin überstürzt.
Sie betrachtete das Gesicht ihres Gastgebers. Es war ein wenig schmaler als Kyles und das Blau seiner Augen war vielleicht etwas dunkler. Trotzdem ... »Die Ähnlichkeit ist bemerkenswert, Lord Grahame.«
Er schenkte ihr ein Lächeln, das sie schmerzlich an Kyle erinnerte. »Da ich Ihr Schwager bin, sollten wir uns duzen. Ich heiße Dominic.«
»Mein Name ist Troth.« Unruhig zupfte sie an ihrer Decke herum. Sie scheute sich, ihm die schreckliche Nachricht mitzuteilen. »Du glaubst mir, dass ich die Frau deines Bruders bin?«
»Du trägst seinen Ring.« Sein Blick wanderte zu ihrer Hand. Im Feuerschein war das Siegel deutlich zu erkennen. »Und du siehst wie eine Frau aus, die mein Bruder heiraten würde. Wo ist er - ist er noch in London?«
Troth merkte, dass Dominic trotz seiner lässigen Haltung innerlich sehr angespannt war. Deshalb hatte er bei ihr gewacht, bis sie wieder bei Bewusstsein war. Vielleicht spürte er, dass etwas nicht stimmte. Gleichzeitig hoffte er, dass sie ihm sagen würde, seinem Bruder ginge es gut, dass er lediglich mit etwas Verspätung ankommen würde. Es schmerzte sie sehr, als sie fortfuhr: »Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten. Kyle ist in China gestorben.«
Dominic erstarrte und wurde kreidebleich. »Nein. Das kann nicht sein.«
»Ich wünschte, es wäre nicht so.« Sie trug dieses Wissen schon seit Monaten mit sich herum. Trotzdem zitterte ihre Stimme, als sie in kurzen Sätzen von Kyles Tod berichtete.
Als sie geendet hatte, verbarg Dominic sein Gesicht in zitternden Händen. »Ich wusste, dass etwas nicht stimmte«, flüsterte er. »Aber ich dachte immer, dass ich es spüren würde, wenn er tot wäre.«
Sie biss sich auf die Lippen. »Es tut mir Leid. Es tut mir so schrecklich Leid. Es war sein letzter Wunsch, dass ich dir diese Nachricht überbringe.«
Er hob den Kopf, sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Bitte vergib mir. Für dich muss es ja noch viel schlimmer sein als für mich.«
»Ich kannte Kyle nur wenige Wochen.« Aber diese Wochen hatten für immer einen anderen Menschen aus ihr gemacht. »Du kanntest ihn dein ganzes Leben lang.«
»Es ist völlig sinnlos, wenn wir unseren Schmerz vergleichen.«
Er stand auf und starrte ins Leere. »Du brauchst nur zu läuten, wenn du etwas benötigst.« Er wollte noch etwas sagen, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Ver... vergib mir.«
Er verließ das Zimmer. Sein Gang war der eines Mannes, dem man eine tödliche Verletzung zugefügt hatte. Instinktiv wusste Troth, dass er zu seiner Frau ging. Sie war die Einzige, die ihn jetzt trösten konnte.
Troth hatte ihre Pflicht getan. Sie vergrub das Gesicht in den Kissen und ließ den Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, freien Lauf.
KAPITEL 5
Kanton, China, Frühling 1832
Kyle traute seinen Augen kaum, als er den Festsaal in der English Factory, dem Hong der Ostindien-Handelsgesellschaft, betrat. Hunderte von Kerzen brannten in den schweren Leuchtern, die in der Mitte des langen, reich gedeckten Tisches aufgestellt waren. »Das war vorhin also wirklich ernst gemeint. Sie haben das Tafelsilber aus dem Schrank geholt«, flüsterte er Gavin Elliott zu. »Im Vergleich hierzu
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