Bride 02 - Tempel Der Liebe
kroch auf die Dachziegel und über den Rist. Dann legte sie sich flach hin und beobachtete, was geschah. Hatte Kyle die Situation falsch eingeschätzt? Es sah ganz so aus, als wollte die Menge ihn in Stücke reißen. Aber offensichtlich hatte er die Gefahr erkannt. Wenn man ihn angriff, würde sie vom Dach springen und an seiner Seite kämpfen.
Mit pochendem Herzen beobachtete sie, wie er seinen Verfolgern mit erstaunlicher Ruhe entgegenging. Er hatte die Hände gehoben, um ihnen zu zeigen, dass er unbewaffnet war. Der erste Verfolger schlug ihm ins Gesicht. Beinahe wäre Troth über den Dachrist gesprungen. Doch dann sah sie einen Soldaten mit spitzem Helm. Er war ein Offizier der Manchu-Armee. Er brüllte den Angreifer an und jagte ihn fort. Der Fan-qui-Spion müsse zum Verhör in den Palast des Präfekten gebracht würde, rief er. Die Betrunkenen blieben stehen und überließen den Fan-qui den Soldaten.
Troth war vor Erleichterung ganz schwindelig. Sie beobachtete, wie Kyle sich zu voller Größe aufrichtete und die Chinesen um sich herum überragte. Gleichmütig ließ er sich die Hände auf dem Rücken fesseln. Den Göttern sei Dank, er hatte die Gefangennahme ohne ernste Verletzung überstanden. Es würde sicher eine schwere diplomatische Krise geben, weil er so weit im Inland gefasst wurde. Aber der Vorfall war vergleichsweise eher unbedeutend.
Kyle wurde abgeführt. Dann hörte sie einen Mann in militärischem Tonfall sagen: »Der Mann, der mit ihm zusammen war, muss hier irgendwo sein. Es war ein großer Kerl.«
»Noch ein Fan-qui?«, fragte ein anderer.
»Ich glaube schon. Er war zu groß, um einer von uns zu sein.«
»Er muss in eine andere Gasse eingebogen sein. Oder er ist über die Dächer geklettert. Wir werden ihn schon finden.« Das war der Befehlshaber. »Ihr zwei klettert hinauf und seht dort nach.«
Rasch glitt Troth auf ihrer Seite vom Dach hinunter und sprang leicht auf die Erde. Dann rannte sie in das Labyrinth aus Gassen. Da die Verfolger nach einem anderen Europäer suchten, war sie in Sicherheit. Sie machte kurz in der Herberge halt und nahm ein paar nützliche Dinge mit, darunter auch Kleider zum Wechseln. Den Rest musste sie dalassen - bald würde man Kyles Spur hierher zurückverfolgen. Sheng würde auch in der Herberge bleiben müssen, da sie sich mit einem Esel nicht verstecken konnte.
Sie würde bis morgen in Fengtang bleiben oder so lange warten, bis sie erfahren hatte, was der Präfekt mit Kyle vorhatte. Wahrscheinlich würde man morgen früh bekannt geben, dass ein feindlicher Spion in die Stadt eingedrungen war. Die kaiserlichen Garden hatten die braven Bürger mutig beschützt. Es war gut möglich, dass Wu Chong .den Gefangenen zum Vizekönig nach Kanton schicken ließ. Wenn das der Fall war, hatte Kyle nichts zu befürchten. Möglicherweise würde er vor ihr in der großen Stadt ankommen und sogar bequemer dorthin reisen als sie.
Aber während Troth sich in den Gassen und der aufgeregten Menge verlor, konnte sie ihre tiefsitzende Angst nicht unterdrücken.
KAPITEL 24
Kyle wurde sogleich in den Yamen des Präfekten gebracht. Der Palasteingang war festlich von brennenden Fackeln beleuchtet. Brutal stießen die Männer Kyle vor sich her. Er stolperte immer wieder, weil er die Arme nicht frei bewegen konnte, um das Gleichgewicht zu halten. Schweigend führten sie ihn durch endlose mit Marmor geflieste Gänge.
Vor dem Audienzsaal wurde er von groben Händen gründlich durchsucht und büßte dabei seine Pistole ein, sein Messer und den kleinen Lederbeutel mit den wertvollen Münzen. Vermutlich würde das Prachtexemplar europäischer Waffenschmiedekunst dem Präfekten übergeben werden. Das Geld allerdings, dachte er zynisch, würde in der Rocktasche des erstbesten Manchu-Beamten landen.
Wu Chong erwartete ihn auf einem geschnitzten hölzernen Thron. Die dunklen Augen glitzerten im Schein der Kerzen. Der drahtige Mann mit dem grau melierten Schnurrbart schwieg eisig und saß unbeweglich da, bis eine der Wachen Kyle einen so heftigen Stoß versetzte, dass er vor ihm auf die Knie fiel.
»Kotau!«, befahl die Wache.
Dies war eines der wenigen chinesischen Worte, das Kyle kannte. Diplomatische Beziehungen zwischen chinesischen Herrschern und westlichen Diplomaten hatten stets gelitten, weil es die Europäer als erniedrigend empfanden, vor einem chinesischen Würdenträger niederzuknien und den Fußboden mit der Stirn zu berühren. Aber Troth hatte ihm erklärt, dass ein
Weitere Kostenlose Bücher