Brief in die Auberginenrepublik
höre ich Geschrei, aus der Fabrik. »Schnell, schnell, schnell«, erkenne ich Haji Marwans Stimme. Ich schaue genauer hin, erblicke vier Jungs, die über die Fabrikmauer springen und Richtung Hauptstraße rennen. Ich drehe mich noch einmal um und erblicke Haji Marwan, der wie ein Soldat vor der Fabriktür steht.
»Was ist los, Haji?«
»Nichts. Das sind die irakischen Jungs, die hier arbeiten. Sie müssen sich ein Versteck suchen. Die Fabrik wird vermutlich heute vom Arbeitsamt kontrolliert. Sie haben ja keine Arbeitserlaubnis, wie alle Iraker in Jordanien.«
»Haji Marwan, ich habe eine Frage.«
»Ja.«
»Hast du ernsthaft das Bildnis Saddams im Mond gesehen, 1991, als der Krieg begann?«
»Ja, ich schwöre es beim Propheten und dem Koran. Mit diesen meinen beiden Augen, die in nicht allzu ferner Zukunft in meinem Grab von einer Meute Ameisen aus den Augenhöhlen herausgefressen werden. Gott ist mein Zeuge. Der Himmel leuchtete rot bis bräunlich, und Saddam lächelte im silbrigen Mond, um sein Gesicht eine Aureole aus Licht. Wie ein Heiliger, ein weiser Prophet.«
Ohne etwas zu erwidern, steige ich in den Lastwagen und flüstere mir lächelnd zu: Nicht nur die Iraker sind ein lustiges Völkchen.
Ich fahre jetzt also in die Auberginenrepublik, das Land des Mannes, dessen Gesicht man im Mond sieht.
°
sponsored by www.boox.to
°
Fünftes Kapitel
Kamal Karim, 31 Jahre alt, Polizist
Donnerstag, 7. Oktober 1999
Bagdad, Irak
9 Uhr morgens. Meinen Nissan parke ich auf der Raschied-Straße vor einem Restaurant, unmittelbar neben dem Tahrir-Import-Export-Büro, meiner neuen, etwas speziellen Arbeitsstelle. Einmal pro Woche, an jedem Donnerstag, muss ich hierher kommen. Meine eigentliche Arbeit erledige ich ansonsten im Untersuchungsgefängnis Rassafa, wo ich seit Jahren als Wächter angestellt bin. Nicht lange ist es her, erst knappe sechs Monate, da bestellte mich der Direktor des Gefängnisses, Oberst Ahmed Kader, in sein Büro und sagte: »Deine künftige Aufgabe ist die Arbeit als Brief-Kontrolleur.« Ein Kollege, der diesen Beruf bis jetzt ausübte, sollte mir alles beibringen. Dieser Mann erzählte mir, dass Oberst Ahmed, den man den »Wolf« nennt, diese Form der Kontrolle eingeführt hat. Der Arbeitsbereich Briefkontrolle existiert seit 1996 in der Sicherheitsbehörde. Nach dem Aufstand im Jahre 1991 waren viele Iraker ins Ausland geflohen, und kurz danach hatte das Phänomen der illegalen Briefsendungen begonnen. »Um solche Briefe, die die Lastwagenfahrer ins Land schmuggeln, wirst du dich kümmern.«
In dem Import-Export-Büro, vor dessen Tür mein Auto jetzt parkt, werden die illegalen Briefe abgeliefert. Meine Aufgabe besteht darin, die Briefe zu lesen, die wichtigsten Informationen herauszufiltern und diese in einem kurzen Protokoll an meinen Chef weiterzuleiten. Diesen Job betrachte ich als eine Art polizeiliche Auszeichnung. Ich arbeite unmittelbar, persönlich mit dem Chef zusammen. »Alles bleibt geheim«, schärfte er mir ein. »Der gute Ruf des Besitzers des Tahrir-Import-Export-Büros Haji Saad muss gewahrt bleiben. Wenn die Menschen erfahren, dass wir heimlich Briefe öffnen und lesen, wäre das eine Katastrophe. Also, weder deine Kollegen noch deine Familie dürfen etwas erfahren! Verstanden?«
»Ja, Herr!«
Im großen Saal des Büros begrüße ich die sechs Mitarbeiter, die mit konzentrierten Mienen an ihren Arbeitstischen sitzen, gehe durch den Hinterhof, erreiche mein fensterloses Arbeitszimmer und schalte das Licht ein. Der Zwölf-Quadratmeter-Raum muss früher als Abstellkammer oder etwas Ähnliches gedient haben. Jetzt stehen mein Arbeitstisch und ein Schrank für die Unterlagen darin. Auf dem Tisch finde ich die beiden großen Behälter, in denen die Briefe gesammelt wurden. Zwei Sorten von Briefsendungen lagern hier: In der einen Box liegen diejenigen, die aus dem Ausland angeliefert wurden, in der anderen die Briefe, die aus dem Inland herausgeschmuggelt werden sollen. Heute beschäftige ich mich erst mal mit den aus dem Ausland eingetroffenen Sendungen, weil nur sehr wenige Inlandsbriefe eingetroffen sind.
Jemand klopft an die Tür.
»Herein!«
Einer der Büromitarbeiter, dessen Namen ich nicht kenne, hält in einer Hand eine Tasse Tee und in der anderen ein Glas Wasser. »Für Sie!«, sagt er und stellt die Getränke auf den Tisch.
»Danke! Schließen Sie beim Gehen bitte die Tür hinter sich!«
»Benötigen Sie sonst noch etwas?«
»Nein, danke!«
Meine
Weitere Kostenlose Bücher