Brief in die Auberginenrepublik
Grundschule. Saddam war bereits zwei Jahre am Gipfel der Macht und Staatspräsident, und der Irak-Iran-Krieg war seit einem Jahr in vollem Gange. An jenem Tag trug ich meinen eleganten schwarzen Anzug, den mir mein Vater an meinem zwölften Geburtstag geschenkt hatte. Wie alle Kinder und Frauen der Familie sollte ich schick und adrett gekleidet in der Küche antreten und die Aufforderung abwarten, Onkel Saddam im Wohnzimmer zu begrüßen und seine Hand zu küssen. Als ich endlich an die Reihe kam, stand ich starr vor diesem großen Mann, reglos wie ein Möbelstück. Aber meine Augen musterten ihn aufmerksam, und ich war fassungslos, weil ich tatsächlich vor Saddam Hussein stand, dem Helden, dem Mutigen, dem großen Führer, wie mein Vater ihn allzeit lobpreiste. Derselbe Mann, den ich immer wieder im Fernsehen sah, dessen Fotografien ich täglich auf den ersten Seiten der Schulbücher und überall an den Wänden erblickte. Auch in unserem Wohnzimmer, dort, wo dieser Mann sich jetzt befand, hing sein Bild an der Wand, zusammen mit meinem Vater. Zwei junge Männer mit übergehängten Kalaschnikows auf den Schultern, mein Vater mit ernstem Blick, Saddam Hussein freundlich lächelnd. Unentwegt schaute ich diesen Menschen an, der mir gegenüber jetzt dasselbe Lächeln wie auf dem Foto in seine Mundwinkel zog. Auf einmal brüllte die Offiziersstimme meines Vaters: »Küss die Hand deines Herrn, du Esel!« Mich überfiel augenblicklich Panik, die unsichtbaren Wurzeln meiner Füße gruben sich in den Zimmerboden, und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Mein Blick pendelte hin und her zwischen der ernsten Miene meines Vaters und dem lächelnden Saddam, wie der verrückt springende Zeiger einer Uhr. Tränen stauten sich in meinen Augen, und es würde nicht lange dauern, bis sie herausflossen. Saddam war es, der die angespannte Stille unterbrach und laut auflachte. »Nein, Kader. Ich sehe hier im Raum keine eselsartigen Geschöpfe. Komm her, kleiner Junge!«, sagte er, noch immer lächelnd. Mein Vater befahl: »Los, geh!« Tatsächlich bewegten sich meine Beine und führten mich zu unserem Staatsoberhaupt. Er streichelte väterlich meine Wange. Dann hob er mich hoch und setzte mich auf seinen Schoß, küsste mich sogar auf den Kopf. »Wie heißt du?«, fragte der Präsident.
»Ich heiße Ahmed Kader Al-Rubaiy.«
»Ein wunderhübscher blonder Knabe«, sagte er anerkennend und schaute dann zu meinem Vater. »Wo hast du ihn her, Kader? Ein blonder Iraker-Junge?«
Vater und Saddam lachten lauthals, und auch die Leibwächter des Präsidenten fielen in die allgemeine Heiterkeit mit ein. »Keine Ahnung. Der Junge wurde blond und wie in Milch gebadet geboren. Hoffentlich wird er trotzdem ein echtes irakisches Herz bekommen.«
»Ganz sicher wird er das. Der kleine Löwe ist der Sohn des großen Löwen«, sagte Saddam und zeigte mit seinem Finger auf meinen Vater. »Er ist von dir, Kader. Das Löwenjunge eines wahren Löwen.«
»Oh, danke, Herr!«
Obwohl ich an jenem Tag noch eine schallende Ohrfeige meines Vaters kassierte, weil ich vergessen hatte, die Hand des Präsidenten zu küssen, war meine Familie sehr stolz, dass ihr Sohn auf dem Schoß des Präsidenten gesessen hatte. Von da an sprach die Familie immer wieder von diesem Ereignis.
Diese erste Begegnung mit dem Präsidenten blieb nicht die letzte in meinem Leben. Ein weiteres Zusammentreffen fand zufällig statt, im Jahr 1992. Im Jahr zuvor hatte ich Beirut, wo ich mein Politikstudium an der dortigen amerikanischen Universität abgeschlossen hatte, verlassen und musste anschließend gleich nach Hause zurückkehren. Der Kuwaitkrieg war gerade zu Ende, die »Mutter aller Schlachten«, wie der Präsident diesen Krieg nannte. Mein Vater, wie immer einsilbig, forderte am Telefon: »Komm zurück! Deine Familie braucht dich.« Ich verabschiedete mich aus dem Libanon mit der Aussicht, dass im Irak »eine große Aufgabe« auf mich wartete, wie es mein Onkel Murad Al-Rubaiy am Telefon formuliert hatte. Aber was für eine denn, bitte? Doch der Onkel wollte es nicht verraten.
Als ich zu Hause ankam, erfuhr ich, dass mein Vater bei Kämpfen in der Stadt Erbil von den kurdischen Rebellen angeschossen worden war. Im Land gäbe es einen Aufstand, erzählte man mir. Während dieser »Seite des Verrats im Buch der irakischen Geschichte«, wie der Aufstand offiziell hieß, versuchte mein Vater, der General der Nordstreitkräfte Kader Al-Rubaiy, die bewaffneten Kurden und
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