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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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lohnen würde, uns liquidieren zu lassen, und so erträgt uns die Partei notgedrungen.«
    Siri starrte in sein Glas und dachte über seine Worte nach, als ihn ein Hauch von Selbstmitleid anwehte. Wieder herrschte laotische Stille, und ihm wurde klar, dass der Abt und er als Einzige noch bei Bewusstsein waren. Phosy und Dtui lagen mit dem Kopf auf dem nackten Holz der Tischplatte und schnarchten im Duett. Lächelnd betrachtete Siri die beiden Schnapsleichen. Er setzte sich mit seinem Whisky auf die Vortreppe der Gebetshalle und erhob das Glas.
    »Manoluk«, sagte er. »Wie es scheint, sind nur noch wir beide übrig. Die jungen Leute von heute wissen einfach nicht mehr, wie man feiert. Tänzchen gefällig?«
    Es sprach einiges dagegen, nach einer durchzechten Nacht im Tempel schnurstracks zur Arbeit zu gehen. Mit das Einzige, was dafür sprach, war die Tatsache, dass man sich nach Öffnung der Pathologie diskret in die Kantine der Mahosot-Klinik zurückziehen konnte, wo man den stärksten, schlammigsten Kaffee im ganzen Land serviert bekam. Über dem klumpigen braunen Bodensatz stand etwa ein Schluck trüber Flüssigkeit. Kaum war der Kaffee auf Trinktemperatur abgekühlt, musste man auch schon einen neuen bestellen. Aber an diesen einen Schluck würde man sich noch bis ins hohe Alter erinnern, denn er fegte einen Kater ebenso schnell hinweg wie ein Zyklon eine Scheune.
    Siri, Dtui und Phosy hatten sich todesmutig auf die Triumph gequetscht und waren nach halsbrecherischer Fahrt um fünf Uhr in der Klinik eingetrudelt. Jetzt, gegen sieben, brummte ihnen der Schädel wie Hornissen in einem Marmeladenglas. Sie konnten nicht einmal mehr blinzeln und hatten ein beduseltes Grinsen im Gesicht, wie die glücklichen Menschen auf den Propagandaplakaten: VEREINIGTE ARBEITER SIND ZUFRIEDENE ARBEITER . Aber das war nach vier Tassen Mahosot-Kaffee eigentlich kein Wunder.
    Schließlich krauchten sie in die Pathologie zurück.
    »Ich fühle mich wie Badezimmerschimmel«, sagte Phosy mit einer Stimme, die klang, als würde man einen Pflug über nackten Fels zerren.
    Dtui betastete ihr Handgelenk. »Mit ein bisschen Glück habe ich noch etwas Blut im Alkohol. Wir sind medizinische Fachkräfte; wir sollten es eigentlich besser wissen. Würde freundlicherweise jemand mein Gehirn stimulieren, bevor es vollends absäuft? Bitte geben Sie mir etwas zu tun.«
    »Ich fürchte, mit einem Mord kann ich heute nicht dienen«, sagte Siri.
    »Dann lassen Sie mich einen alten Fall neu aufrollen. Vielleicht kann ich ihn diesmal lösen.«
    »Sie könnten uns eventuell bei unserem Zahnarzträtsel helfen«, schlug Siri vor. »Unsere Nachforschungen haben bisher leider keinerlei Ergebnisse gezeitigt.«
    »Keinerlei Ergebnisse?«, sagte Phosy. »Habe ich etwa nicht das Haus gefunden? Und die Frau?«
    »Doch, doch, natürlich«, sagte Siri. »Brillante Ermittlungsarbeit, übrigens. Aber die Geschichte, die man uns aufgetischt hat, war mindestens ebenso haarsträubend wie der Brief.«
    »Soll das heißen, Sie glauben ihr nicht?«
    »Haben Sie schon einmal Schach gespielt, Phosy?«
    »Aber gewiss doch. Wenn wir die Schweine kastriert, die Hühner gerupft und uns beim Gräbenausheben die Finger blutig gebuddelt hatten, sind die anderen Waisenkinder und ich rasch nach Hause gelaufen, um eine Partie Schach zu spielen, bevor wir das Reisstroh bündeln mussten.«
    »Ein einfaches Nein hätte es auch getan.«
    »Also nein. Aber Sie sind vermutlich ein versierter Spieler.«
    »Schach gehörte in Paris zu den wenigen Freitzeitbeschäftigungen, die kein Geld kosteten. In sämtlichen Parks wurde gespielt. Anfangs schaute ich nur zu, über die Maßen fasziniert. Dann fing ich selbst an zu spielen. Ich brachte es zwar nicht zum Großmeister, gewann aber durchaus die eine oder andere Partie. Im Winter, wenn man nicht im Freien spielen konnte, veranstalteten die Zeitungen Schachwettbewerbe. Sie brachten Schachdiagramme, anhand derer man den nächsten Zug ausknobeln musste. Daher kenne ich die entsprechenden Kürzel und weiß, dass die Kombinationen auf der Liste des Zahnarztes mit Schach nicht das Geringste zu schaffen haben.«
    »Dann hat die Witwe also gelogen«, sagte Phosy.
    »Oder ihr Mann hat sie belogen. Da sie nicht Schach spielte, hätte er ihr sonst etwas erzählen können. Und fanden Sie die Geschichte mit der unsichtbaren Tinte nicht auch ein wenig platt? Der Scherz eines Freundes? Ich bitte Sie. Seine Frau konnte er damit vielleicht hinters Licht führen, aber

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