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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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befremdlich. Ein gewisses … Talent kann man ihr allerdings nicht absprechen.«
    »Sie hat gesagt, ich solle meine Zeit nicht damit vergeuden, bei ihr herumzusitzen.«
    »Einfach so? Ohne Sie vorher mit einem Gedicht zu quälen?«
    »Doch, doch, es gibt immer erst ein Gedicht. Kein Mensch hat auch nur den leisesten Schimmer, was sie zu bedeuten haben. Gestern ging es um magische Pulverfässer. Wenn man in sie hineinruft, kann man Stimmen aus fernen Ländern hören. Aber was soll’s, wenn es sie glücklich macht. Sie möchte nur, dass man ihr zuhört. Was hat sie Ihnen gesagt?«
    »Mir? Nichts als ausgemachten Humbug.«
    Dtui kicherte. »Wirklich? Und warum glauben Sie jetzt plötzlich doch, dass sie hellsehen kann?«
    »Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur …«
    Phosy war von seinem Gartenabenteuer zurückgekehrt und gelangte zu dem Schluss, dass es an der Zeit sei, über einen der Bocktische zu fallen. Letzterer brach unter dem Gewicht des Polizisten zusammen, und leere Gläser und Flaschen klirrten zu Boden. Hätte man Augenrollen hören können, wäre aus der Hütte des Abtes in diesem Moment ein veritables Donnerwetter zu vernehmen gewesen. Siri und Dtui halfen Phosy auf seinen Stuhl, obwohl sie genauso wacklig auf den Beinen waren wie er. Sie kamen überein, dass sie auf den Schreck erst mal einen trinken mussten, um ihre Nerven zu beruhigen.
    »Jammerschade, dass Civilai heute nicht dabei sein konnte«, sagte Phosy. Er klang erstaunlich nüchtern für jemanden, der soeben ein Dutzend Leihgläser sowie eine noch jungfräuliche Flasche vietnamesischen Fusels zertrümmert hatte. Civilai war ihr einziger Freund im Politbüro und eine verwandte Seele. Das fiktive Geburtsdatum, das Siri sich für seine offiziellen Unterlagen ausgedacht hatte, war der 21. Mai 1904. Wie sich herausstellte, hatte Civilai ganze zwei Tage zuvor das Licht der Welt erblickt, weshalb er sich einen Spaß daraus machte, Siri »kleiner Bruder« zu nennen. Sie hatten in Vietnam gemeinsam die sozialistische Lehre studiert, die Pathet Lao mitgegründet, und jeder hatte etwa gleich viele hochrangige Parteikader vor den Kopf gestoßen. Sie waren undiplomatische alte Sonderlinge, deren Sturheit es ihnen verbot, sich an die politischen Spielregeln zu halten. Für Civilai, der im Zentralkomitee saß, hatte dies einen entscheidenden Nachteil: Die Parteiführung schenkte ihm schon lange kein Gehör mehr. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als seiner Enttäuschung bei Siri Luft zu machen. Das – und ihre Vorliebe für gutes Essen und geistige Getränke – schweißte die beiden Männer so eng zusammen.
    »Wo steckt er überhaupt?«
    Phosys Frage war im Lauf des Abends bereits mehrmals beantwortet worden.
    » Back in the USSR «, rief Dtui ihm ins Gedächtnis. »Wie die Beatles.«
    »Was?«
    »In der UdSSR . Er kommt morgen zurück, falls die Sowjets ihn unbehelligt ziehen lassen. Noch mal erkläre ich Ihnen das aber nicht.«
    »Seit wann gibt es in Russland Betelnüsse?«
    »Vergessen Sie’s.«
    »Der Arme. Jeden Tag eine andere Party, aber immer dieselbe Partei«, seufzte Siri. Er schob seinen Stuhl ein Stück nach hinten, damit er den Himmel sehen konnte, doch in der trüben Suppe über ihnen war nicht ein einziger Stern auszumachen. Er fragte sich, ob am Ende vielleicht doch noch Gewitterwolken aufziehen würden, und vergaß darüber völlig, was er hatte sagen wollen.
    »Ich glaube, das verstehe ich nicht«, meinte Dtui.
    »Dann will ich es Ihnen erklären. Sie schicken Civilai von Konferenz zu Konferenz, aber sprechen darf er nie. Er vertritt die Partei bei Konzerten und Kulturveranstaltungen und ist auf der Tanzfläche immer der Erste. Er muss sich um sämtliche hohe Staatsgäste kümmern, sie zum Essen ausführen und ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen. Er redet von Amts wegen so viel dummes Zeug, dass er inzwischen kaum noch ein gescheites Wort über die Lippen bringt. Er sagt, er kommt sich vor wie der Komiker, der dem Publikum einheizt, bevor der Star die Bühne betritt.«
    »Und warum setzt er sich dann nicht zur Ruhe?«
    »Ach, Dtui. Meinen Sie, wenn uns die Partei in den Ruhestand entlassen würde, wären wir noch hier? Wir sind sozialistisches Urgestein, Fossilien mit Symbolcharakter. Die Partei braucht Leute wie uns, um dem aufstrebenden Nachwuchs Respekt einzuflößen. Zwar wäre eine Statue dafür weitaus besser geeignet, weil Stein nun einmal keine Widerworte gibt. Andererseits sind wir so harmlos, dass es sich kaum

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