Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Obwohl sie ihre Gefühle für sich behielten, wusste Siri genau, was in seinem Freund vorging. In Zeiten wie diesen einen wohlorganisierten Staatsstreich zu verhindern war so gut wie unmöglich. Andernfalls wäre Civilai auf der Stelle in sein Büro geeilt und hätte alle verfügbaren Räder in Bewegung gesetzt. Stattdessen starrte er stumpfäugig auf den Fluss.
»Ich fliege heute Abend nach Pakxe«, sagte Siri.
»Warum?«
»Irgendein Trottel hat sich in der Badewanne per Stromschlag ins Jenseits befördert.«
»Hmm. Für diesen Anblick würde ich jederzeit eine sechshundert Kilometer weite Reise auf mich nehmen.«
»Zwei Fliegen, eine Klappe.«
»Der Brief des Zahnarztes?«
»Er war in Pakxe abgestempelt.«
»Dann willst du dem Teufel also an die Vagina?«
»Wer wollte das nicht?«
»Dir ist hoffentlich klar, dass du dich da in etwas einmischst, das dich das Leben kosten könnte.«
»Ich habe feige Mordanschläge und Explosionen überlebt. Ich habe sogar über ein Jahr in der Krankenhauskantine gegessen. Wen das nicht umbringt, dem kann nichts und niemand etwas anhaben. Allmählich habe ich das Gefühl, ich bin unbesiegbar.«
»Von wegen.«
»Ich werde mich jedenfalls nicht kampflos geschlagen geben, sondern mich mit Händen und Füßen zur Wehr setzen. Eines Tages, unter der Regierung dieser oder jener Junta, wird man mich als Helden verehren und mein Konterfei auf eine Briefmarke drucken. Ich werde Boua im Nirwana wiedersehen und ihr von meinen Großtaten berichten. Vielleicht ist sie dann endlich stolz auf mich.«
»Deine Frau war immer stolz auf dich, kleiner Bruder.«
»Meinst du?«
»Das meine ich nicht nur, das weiß ich.« Eine prächtige gelbe Raupe hatte sich an einem Spinnfaden vom Baum herab- und auf Civilais Knie niedergelassen. Sanft strich er mit dem Finger über ihre Borsten. »Natürlich mochte sie mich lieber als dich. Trotzdem hatte sie dich, glaube ich, ganz gern.«
Siri schüttelte lachend den Kopf.
»Wer so völlig ohne Fehl und Tadel ist wie du, hat es gewiss nicht immer leicht im Leben«, meinte er.
»Wie sagt Buddha noch so schön? Leben heißt leiden.«
»Ach ja? Hatte der saubere Herr nicht circa tausend Konkubinen, bevor er erleuchtet ward?«
»Stimmt. Ergo wusste der Mann genau, was Leiden bedeutet. Ich habe nur die eine, und ich leide schrecklich.«
»Bei unserem nächsten heimlichen Liebesnachmittag werde ich Nong stecken, dass du sie eine Konkubine genannt hast.«
Civilai verschmähte den Köder.
»Ich komme mit«, sagte er.
»Zu deiner Frau?«
»Nein, nach Pakxe.«
»Im Ernst? Musst du denn nicht zu Sitzungen und Konferenzen? Eifrig Hände schütteln?«
»Ich habe mir eine Pause redlich verdient. Du bist doch Arzt. Kannst du mir nicht einfach irgendeine Krankheit andichten und mir ein paar Tage Ruhe verordnen?«
Siri war entzückt. »Mit Vergnügen. Irgendwelche besonderen Wünsche?«
»Nichts Entstellendes. Und wehe, du verbietest mir das Trinken.«
»Syphilis würde dich ein Weilchen außer Gefecht setzen.«
»Nein. Das fände Frau Nong vermutlich gar nicht komisch. Ich dachte eigentlich eher an ein inneres Leiden. Schmerzhaft, aber nicht lebensbedrohlich.«
»Chronische Hämorrhoiden?«
»Perfekt.«
Siri saß noch über Civilais Attest, als Phosy die Pathologie betrat. Er war von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt und sah aus wie ein Schichtarbeiter aus der Schnupftabakfabrik.
»Na, wie war’s?«, fragte Siri. Da er Vorbereitungen für seine Reise in den Süden treffen musste, waren sie übereingekommen, dass Phosy allein zu der Zahnarztwitwe hinausfahren würde.
»Mit Ihrer Maschine ging es sehr viel schneller.«
»Sie steht Ihnen jederzeit zur freien Verfügung.«
»Ich weiß, aber die Vorschriften … Dienstfahrten nur mit dem Motorroller des Dezernats.«
»Auch wenn es sich um eine rosa Vespa handelt?«
»Sie ist nicht rosa, sondern lila. Jedenfalls war sie es gestern noch.«
»Ich stelle mir nur ungern vor, wie Sie darauf Verbrecher jagen.«
»Ich bitte Sie, Siri. Sie wissen doch genau, dass es in der DVR Laos keine Verbrecher gibt.«
»Was hat die Witwe gesagt?«
»Ich konnte leider nicht mehr mit ihr sprechen.«
»Was soll das heißen?«
»Nun ja, ich kam so gegen elf Uhr an. Die Tür war angelehnt, und als ich rief, antwortete niemand. Ich ging ins Haus, wo offenbar ein Kampf stattgefunden hatte. Der Tisch war umgestürzt, und diese komischen Spielfiguren lagen auf dem Fußboden verstreut. Überall Papiere und zerbrochenes
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