Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
Vom Netzwerk:
weiteren dunstigen, verhangenen Morgen. Die gleichen klumpigen Wolken, die sie in Vientiane zurückgelassen hatten, hingen über ihnen wie weiches Brot. Das ganze Land schien sich in ein Sandwich verwandelt zu haben. Die fehlenden Gehwege und überreich vorhandenen Schlaglöcher ließen keinen Zweifel daran, dass Gastfreundschaft in Pakxe nicht eben großgeschrieben wurde. Die einzigen Häuser, die nicht den Eindruck machten, als ob der nächste Windstoß sie hinwegfegen würde, waren die Amtsgebäude, massive franko-chinesische Kästen mit dicken Wänden und gähnenden Fenstern, deren hölzerne Läden an gespreizte Fledermausschwingen erinnerten. Nichts war wirklich weiß – weder die Farbe an den Tempelmauern noch die Straßenschilder oder die Augen und Zähne der zerlumpten Gestalten, die ihnen entgegenkamen. Ochsenkarren und kleine Ponywagen überholten sie, und sowohl die Kutscher als auch ihre Tiere beäugten die beiden alten Männer voller Argwohn. Mit Schirmmütze und dunkler Brille sah Civilai aus wie der unterernährte ältere Cousin eines kubanischen Revolutionärs. Siri ging federnden Schrittes neben ihm her.
    Das Pakxe’sche Bureau de Poste war in einem kleinen Betonbau mit blättrigem grauen Anstrich untergebracht. Der einst ordentliche, gepflegte Garten war zu einem unansehnlichen Etwas verwildert, das den Holzzaun zu verschlingen drohte. Dornige Zweige ragten zwischen den Latten hervor und reckten sich nach den beiden alten Männern. Hier trennten sich Siris und Civilais Wege. Siri musste seinen Verpflichtungen gegenüber dem Justizministerium nachkommen, und Civilai wollte sehen, ob man im Postamt vielleicht mehr über die Herkunft des an den Zahnarzt adressierten Briefes wusste. Sie vereinbarten, sich zum Mittagessen an der Fähranlegestelle zu treffen, wo sie die gewonnenen Erkenntnisse austauschen wollten.
    Als Siri auf dem Polizeirevier eintraf, hinderte das den Diensthabenden nicht daran, sich auch weiterhin der überaus diffizilen Aufgabe zu widmen, mittels einer Pinzette seine Kinnbehaarung zu entfernen. Der Beamte starrte gänzlich unbeirrt in den kleinen runden Handspiegel, den er sich vor das Gesicht hielt.
    Siri sagte: »Verzeihung« und wartete auf ein: »Jawohl, der Herr. Ich bin sofort für Sie da.«
    Vergeblich.
    »Also«, sagte Siri, »entweder haben Sie etwas an den Ohren, oder ich bin über Nacht unsichtbar geworden.«
    Der Beamte zupfte und rupfte ein letztes Mal, dann ließ er den Spiegel sinken und funkelte den Eindringling wütend an.
    »Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«, fragte er. Seine Stimme kratzte, als hätte er am Abend zuvor etwas zu tief ins Glas geschaut.
    »Ich glaube, ich bin Dr. Siri Paiboun vom Justizministerium, muss allerdings gestehen, dass ich schon seit ein paar Tagen nicht mehr in meinen Ausweis gesehen habe.«
    Andernorts hätte die bloße Erwähnung des Justizministeriums einen Staatsdiener strammstehen lassen. Nicht so in Pakxe. Der Beamte fischte unter seinem Schreibtisch nach einem Papierkorb und wischte das haarige Ergebnis seiner Bemühungen mit der Handkante hinein. Dann brüllte er aus vollem Hals: »He, Tao!«
    Ein Mann mittleren Alters in Diensthose und ehemals weißem Unterhemd streckte den Kopf aus einem Büro drei Türen weiter. Er war genau so groß wie Siri, aber ungefähr dreimal so dick. Sein kurzgeschnittenes graues Haar war bis hinter den Scheitel zurückgewichen und hatte nur ein kleines, kreisrundes Atoll von Stoppeln auf der Stirn zurückgelassen.
    »Was?«, fragte er. Er litt offenbar an derselben Halskrankheit wie sein Kollege.
    »Der Heini aus Vientiane ist da.«
    »Gut.«
    Kein Wohlsein oder Hallo. Tao zog sich in sein Zimmer zurück und ließ Siri stehen wie einen Regenschirm. In Vientiane hatte man ihn vorgewarnt: Die Staatsdiener in Pakxe hätten einen nicht ganz so armseligen Ruf wie ihre Kollegen in der Hauptstadt. Sondern einen noch weitaus jämmerlicheren.
    Einen laotischen Kader aus dem Norden traf die Versetzung in den tiefen Süden ebenso hart wie einen Russen die Verbannung nach Sibirien. Der Süden war noch immer eine Brutstätte des Antikommunismus. Nach Einbruch der Dunkelheit mochten die Behörden für die Sicherheit jenseits der Stadtgrenzen nicht mehr garantieren. Auf dem Land konnten aufständische Royalisten unbehelligt Zwietracht säen und neue Soldaten für den Guerillakrieg gegen die Sozialisten rekrutieren. Noch vor sechs Jahren war es genau umgekehrt gewesen: Damals hatten sich die CIA und die

Weitere Kostenlose Bücher