Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Gefühl, dass dieser kleine Ausflug mehr war als eine bloße Vergnügungsfahrt. Ein Fluchtversuch, vielleicht? Die Frage war ihm in den Sinn gekommen, als er am Ufer des schlaftrunkenen Mekong gestanden und aufs Wasser gestarrt hatte: Was, wenn er seinen Kampfeswillen verloren hatte? Wenn aus dem rebellischen jungen Mann von einst ein knurriger alter Knacker geworden war, der wenig mehr zu bieten hatte als Genörgel und Sarkasmus? Möglicherweise hing die Limone schon etwas zu lange am Baum. Mit diesen düsteren Gedanken hätte er natürlich nicht einschlafen dürfen. Er hätte wissen müssen, dass die Traumwelt einem unter Umständen feindselig gesinnt war, wenn man sie mit einer selbstbeigebrachten seelischen Wunde betrat. Doch jede Gegenwehr war zwecklos.
Er ging durch eine herrliche Landschaft. Eiskristalle, so weit das Auge reichte, wie in mystischem Frost erstarrte Blüten. Unter seinen bloßen Füßen erstreckte sich eine dichte Schneedecke. Ein Elch stand am Horizont und beobachtete ihn. Bis auf seine alten Thai-Boxing-Shorts war Siri nackt, und obwohl die wenigen weißen Haare auf seiner Brust steifgefroren waren, spürte er die Kälte nicht. Er war unbesiegbar, ein laotischer Krieger, dem die extremen Wetterbedingungen Skandinaviens nichts anhaben konnten.
Er stapfte durch den harschen Schnee, bis er am Rande eines riesigen Sees aus Wattewolken ankam. Er kannte das Bild von den Schriftrollen im Tempel. Obwohl er es eigentlich nicht in den Weiten Nordeuropas vermutet hatte, befand er sich ohne Zweifel im Nirwana. Jenseits der Wolken sah er das grün-goldene Dach – die Sonne spiegelte sich in den Glasornamenten. Dies war der Ort, an dem alles Leid ein Ende haben – und das Unerklärliche offenbar werden – würde. Hier würde er den langersehnten Frieden finden.
Behutsam betrat er die Wolke. Sie sah aus, als würde sie nachgeben, wie Baiser, doch sie trug sein Gewicht. Sein Selbstvertrauen wuchs mit jedem Schritt. Bis ans andere Ufer war es nur ein kurzes …
Die Wolken teilten sich, und er fiel ins Wasser wie ein Stein. Seine Sinne kehrten im Nu zurück. Jetzt spürte er die Kälte, das eisige Nass auf seiner Haut, konnte aber nichts sehen. Er schnappte nach Luft, und plötzlich füllte seine Lunge sich mit Wasser. Es war ein so abscheuliches Gefühl, dass es unmöglich Fantasie sein konnte. Wieder würgte er einen Schluck der bitteren Flüssigkeit hinunter. Panik. Er schlug mit allen Vieren um sich, versuchte, das Wasser auszustoßen, obwohl er wusste, dass es zwecklos war. Obwohl er wusste, dass der nächste Atemzug sein letzter sein würde.
Er hatte den Grund erreicht. Seine Füße versanken in weichem, warmem Schlamm. Falls sein letztes Stündlein geschlagen hatte, wollte er in Frieden sterben, die wohlige Wärme des Lehms genießen, der ihm zwischen die Zehen quoll. Sein letzter Gedanke sollte ein angenehmer sein. Die Brust wurde ihm schwer, und als ihm die Augen zufielen und er sich schon in sein Los ergeben hatte, zeichnete sich im trüben Wasser auf einmal eine gräuliche Gestalt ab. Er glaubte, eine Hand zu spüren, die sein Gesicht abtastete, glaubte Augen zu sehen, die glühend in die seinen starrten. Ein fester Griff um sein Handgelenk, ein Ruck, und dann war alles vorbei.
Als Siri wieder zu sich kam, spuckte er Flusswasser und hustete Schleim. Er spürte starke Hände auf seiner Brust, wandte den Kopf und blickte in das lächelnde, straffe Gesicht des Soldaten.
Da ihm kein passender Scherz einfiel, griff Siri auf das Naheliegende zurück. »Was ist passiert?«
»Sie sind in den Fluss gesprungen«, sagte sein Retter.
Wieder musste sich Siri übergeben, förderte diesmal jedoch hauptsächlich Galle und nur wenig Wasser zutage.
»Warum?«, fragte er.
»Das müssten Sie selbst eigentlich am besten wissen.« Der Soldat hielt Siris Handgelenk umklammert und sah auf seine Uhr. »Aber wie es aussah, sind Sie schlafgewandelt.«
»Sie sind aber doch nicht hier in Khong, weil Sie auf einen Selbstmordversuch gewartet haben, oder?«
»Nein, ich bin Ihnen hierher gefolgt.«
Siri wälzte sich heftig hustend auf die Seite. Seine Brust fühlte sich an wie der Motor ihres Jeeps. »In wessen Auftrag?«
»Genosse Phosy, Doktor.«
»Sie sind einer seiner Männer?«
»Wir haben früher im Nordosten zusammen Dienst getan. Inzwischen bin ich in Vientiane stationiert. Der Hauptmann und ich haben eine Menge durchgemacht. Und jetzt helfen wir uns gegenseitig aus. Er hat mich gebeten, ein Auge auf Sie
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