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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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konnte nichts dagegen unternehmen. Siri wurde klar, dass diese kleine Spritztour für Civilai eher deprimierend als erfreulich war.
    Er setzte sich neben Civilai. »Er tut mir leid, Bruder«, sagte er.
    »Das hast du nun davon.« Civilai blickte nicht auf. Mit feuchten Augen starrte er auf seine Hände. Er hatte noch nie so alt ausgesehen.
    »Herrschaften!« Keuk stand unter einem mit haarigen Misteln bewachsenen Baum und zeigte auf den Fluss, seine Augen groß wie indische Rotis.
    Der Rücken eines riesigen, grau-grün glänzenden Tieres war am anderen Ufer aufgetaucht und kam nun geradewegs auf die beiden alten Männer zu. Kurz bevor er sein Ziel erreicht hatte, hob der Delfin den Kopf aus dem Wasser und verzog das Maul zu einem breiten Lächeln. Er reckte den Schnabel und spuckte eine Wasserfontäne, die Civilai mitten auf der Brust traf. Das Politbüromitglied sah erst das Tier, dann Siri verwundert an und brach in schallendes Gelächter aus. Siri lachte mit. Der pa kha schien zu spüren, dass er ein dankbares Publikum hatte, und schlug fröhlich eine Reihe von Purzelbäumen. Siri legte seinem Freund den Arm um die Schultern und genoss die Vorstellung.
    »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Keuk und trat aus dem Schatten seines Baumes. »Jungejunge. Das ist vielleicht ’n Ding.«
    »Wisst ihr was?«, sagte Siri. »Ich glaube, er möchte mit uns spielen.« Er ging ans Wasser hinunter, schleuderte die Sandalen von den Füßen und krempelte sich die Hosenbeine hoch. Die Böschung fiel hier jäh steil ab, und er setzte sich und ließ die Füße in den vorbeiziehenden Mekong baumeln.
    »Vergiss nicht, dass du nicht schwimmen kannst«, rief Civilai.
    Der pa kha kam ans Ufer und rieb sich an Siris Knien. Dann drehte er sich auf den Rücken und sah ihn erwartungsvoll an.
    »Ich werd’ verrückt«, sagte Keuk.
    Siri warf alle Vorsicht über Bord, beugte sich vor und streichelte dem Delfin den Bauch. Es war, als ließe man die Hand über eine große, nasse Gewürzgurke gleiten, ein seltsames, aber keineswegs unangenehmes Gefühl. Der Delfin warf den Kopf nach hinten, gab einen quiekenden Laut von sich und drehte sich wieder auf die Vorderseite.
    »Ich glaube, er mag mich«, sagte Siri und grinste von einem Ohr zum anderen. Er schlang einen Arm über den Rücken des Tieres und glitt langsam ins Wasser.
    »Siri?«, rief Civilai, hastete ans Ufer und starrte seinen Freund an, der freudestrahlend in den Fluten trieb und einen riesigen Wassersäuger umarmte. »Du weißt hoffentlich, was du da tust?«
    Siri zwinkerte Civilai zu, dann plötzlich verwandelte sein Grinsen sich in einen Ausdruck des Erstaunens, als der Delfin ihn unvermittelt mit sich in den Fluss zog.
    »Siri!« Civilai wurde angst und bange. »Denk an die Sirenen. Komm sofort zurück. Du legst dein Leben in die Hände eines Fisches.«
    Siri antwortete mit einem leicht gequälten Lächeln. Er hatte die tiefste Stelle des Flusses fast erreicht. »Schon gut, älterer Bruder. Ich habe mich noch nie so sicher gefühlt. Das ist …«
    In diesem Augenblick tauchte der Delfin ab und zog Siri mit sich in die Tiefe. Alles ging so schnell, dass der Mekong sich binnen Sekunden über ihnen schloss, ganz so, als hätten der amtliche Leichenbeschauer und sein Reittier niemals existiert.
    Der Regen prasselte so heftig auf das Blechdach ihrer Einzimmerbehausung, dass Phosy und Dtui das Sprechen aufgegeben hatten. Dtui schwirrte der Kopf von den sonderbaren Gerüchen, die sich in der Finsternis vermengten: der muffige Chemiegestank der mit Teeröl imprägnierten Bretterwände, der bittere Duft der aus Bananenblättern geflochtenen Matten, die den gestampften Lehmboden bedeckten, der wohltuende Regen und der süße Rauch der Mückenspirale. Sie lag vollständig bekleidet auf der nur wenige Zentimeter dicken Schaumstoffmatratze. Obwohl der hämmernde Regen sie immer wieder schaudern ließ, blieb sie auf ihrer Hälfte der Decke liegen. Zwar hatte Mutter Natur sie vorübergehend taub und blind gemacht, doch war sie sich durchaus bewusst, dass Phosy nur knapp zwanzig Zentimeter von ihr entfernt unter ebenjener Decke lag. Wie die meisten Männer trug er bloß ein kariertes Baumwollschlaftuch, das er sich um die Hüften geknotet hatte.
    Sie hätten gar nicht getrennt schlafen können. Türen und Fenster hatten keine Schlösser, und die Ritzen zwischen den Holzlatten waren so breit, dass man bequem einen Finger hindurchstecken konnte. Sie waren ein verheiratetes Paar. Damit sie

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