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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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Strafe dafür, dass Champasak so lange eine abtrünnige Provinz war. Die Auswirkungen halten sich nur deshalb in recht engen Grenzen, weil die Verwaltung einen höchstens zwanzig Meilen weiten Umkreis kontrolliert. Folglich wird in der Stadt alles überreguliert, zum Ausgleich dafür, dass es außerhalb rein nichts zu regulieren gibt.«
    »Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie einem der Gründerväter der Roten Revolution gegenübersitzen?«
    »Ach, Siri.« Sie legte ihm lächelnd die Hand auf den Arm. »Ich weiß doch, das Sie das alles mindestens genauso lächerlich finden wie ich. Dafür kenne ich einfach Sie zu gut. Sie haben keine Ahnung, wer ich bin, nicht wahr?«
    Er musterte ihr breites, zufriedenes Gesicht, doch es sagte ihm nichts.
    »Nein.«
    »Ich war eins Ihrer Lagerkinder, Dr. Siri. Meine medizinische Grundausbildung habe ich Ihnen und Ihrer Frau zu verdanken. Ich saß abends in Ihrem Zelt und platzte fast vor Stolz, wenn Sie von den Heldentaten meiner Landsleute erzählten. Auf dem Exerzierplatz habe ich die Faust gereckt, der Lao Issara ewige Treue und den Franzosen tödliche Vergeltung geschworen. Sie waren mein Idol. Ihretwegen bin ich Ärztin geworden.«
    Sie sah, wie dem alten Mann die Tränen kamen. Sie drückte seine Hand.
    »Dr. Siri, auch wenn Sie das heute anders sehen mögen, weiß ich doch, dass wir von Ihren Bemühungen reichlich profitiert haben: ich, mein Mann und meine Kinder. Sie finden all diese kleinlichen Gesetze und Bestimmungen ebenso absurd wie ich. Das ist nicht das System, für das Sie gekämpft haben. Ich weiß, dass Sie Ihre Ideale niemals verraten würden. Sie haben uns beigebracht, unerschrocken für unsere Überzeugung einzutreten und für dieses Recht zu kämpfen. Als Sie heute Morgen eingeliefert wurden, kehrte dieser Stolz schlagartig zurück. Ich kam mir vor wie ein Jünger zu Jesu Füßen.«
    »Somdy«, sagte Siri und wischte sich lächelnd die Tränen von den Wangen, »christliche Symbolik scheint mir der Situation nicht unbedingt angemessen, zumal es mir offenbar nicht vergönnt ist, auf dem Wasser zu wandeln. Haben Sie zu Gott gefunden, nachdem ich weg war?«
    »Nicht nur zu einem Gott, zu vielen Göttern, Onkel. Wenn man hier überleben will, muss man an sie alle glauben. Hier eine Prise Katholizismus, dort ein Hauch von Zen. Wer seine Patienten retten will, dem ist jede Hilfe recht. Das dürfte in der Politik nicht sehr viel anders sein. Stimmt’s, oder habe ich recht?«
    »Mein Zynismus scheint auf Sie abgefärbt zu haben. Das freut mich. Aber seien Sie vorsichtig. Die roten Herrschaften in Vientiane sind religiösen Eiferern nicht eben wohlgesinnt. Trotzdem vielen Dank. Unser kleiner Plausch hat mir mindestens so gutgetan wie Ihre ärztliche Betreuung.«
    * * *
    Als sie gegangen war, um sich von ihrer anstrengenden Nachtschicht zu erholen, saß er allein auf dem Balkon und betastete den frischgeflochtenen Talisman um seinen Hals. Phosys Freund Kumpai, der Soldat, hatte ihn morgens im Frisiersalon abgeholt. Siri konnte es unter keinen Umständen riskieren, sich der List der bösen Geister länger auszusetzen als irgend nötig. Schließlich war es ihnen am Abend zuvor beinahe gelungen, ihn und seinen schamanischen Untermieter vorzeitig in ein nasses Grab zu befördern. Sie wurden von Mal zu Mal heimtückischer, und Siri fragte sich, wann er sein Steinamulett gegen ein leistungsfähigeres Modell würde eintauschen müssen.
    Er sah den Schulkindern zu, die durch den Straßenmatsch schlitterten und dabei ihre weißen Hemden dreckig machten, wie die ungezogenen Davor/Danach-Gören in der thailändischen Waschmittelreklame. Wie lange es wohl dauerte, bis sie ihre fröhliche Unschuld verloren hatten? Wer waren ihre Vorbilder? Er dachte an Somdys Worte: »Ich weiß, dass Sie Ihre Ideale niemals verraten würden.«
    Er fragte sich, wie seine Ideale eigentlich aussahen, ja, ob er überhaupt noch welche hatte. Wie oft war er seit seiner Zeit im Lager aus purem Egoismus faule Kompromisse eingegangen! Ein Fall kam ihm auf Anhieb in den Sinn: Tuyen Quang.
    Die Konferenz des laotischen Widerstandes in Vietnam. Der Tag, an dem er seine Ideale verraten hatte. Der Tag, an dem sie alle ihre Ideale verraten hatten. Es sollte ein großes Ereignis werden, das Treffen all der zersplitterten Lao-Issara-Einheiten, die bis zur letzten Kugel gekämpft und sich den französischen Invasoren tapfer widersetzt hatten. Alte Krieger feierten ein Wiedersehen, und das erkaltete Feuer der

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