Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
er …«
»Ich dachte, er wäre Tischler?«
»Ach du Scheiße. Meine große Klappe.« Dtui schien jetzt regelrecht in Tränen zu schwimmen. »Er bringt mich um, ich schwör’s.«
»Dtui!«
»Ich will doch nur hier raus, nach Australien. Endlich Frieden finden.« Die junge Frau nahm Dtuis Hand und lächelte, damit sie weitersprach. Und so sagte Dtui im Flüsterton, unterbrochen von gelegentlichem Schluchzen: »Phosy war dem Zentralkommando unterstellt. Er hat unter General Ouan gedient. Er war als Geheimagent im Sondereinsatz in der Zentralregion.«
»Und warum hat er das nicht einfach allen gesagt?«
»Soll das ein Witz sein? Er weiß aus sicherer Quelle, dass hier im Lager über hundert PL -Sympathisanten ihr Unwesen treiben. Wie soll er da wissen, wem er trauen kann? Er wartet darauf, dass ihm einer seiner alten KLA -Kameraden über den Weg läuft, jemand, den er kennt. Leider sind die meisten seiner Kommandeure und Kollegen längst in Übersee. Er ist der Verzweiflung nahe, aber eins muss ich ihm lassen, meinem Phosy, er hat eine Engelsgeduld. Wenn es sein muss, wartet er monatelang, bis er hundertprozentig sicher ist, wem er sich anvertrauen kann.«
»Und du?«
»Ich? Ich fände es natürlich auch schöner, wenn ich in Laos leben könnte, unter einer stabilen KLA -Regierung, statt mein Mittagessen mit dem Bumerang erlegen zu müssen. Aber bis dahin sitze ich lieber in einem Vorort von Sydney als hier. Phosy hingegen ist ein Getriebener. Er wird erst Ruhe geben, wenn er jedem Einzelnen dieser roten Mistkerle eigenhändig den Hals umgedreht hat.«
Plötzlich fiel Dtuis Freundin ein, wie spät es war, und sie eilte davon, nicht ohne zuvor bei der Seele ihrer Großmutter zu schwören, dass kein Wort des soeben Gehörten je über ihre Lippen kommen werde. Kaum war sie zum Erbsenpulen entschwunden, huschte ein Lächeln über Dtuis Gesicht. Sie wusste, dass Großmama auf ewig in der Hölle schmoren würde.
15
DIE VOLLEYBALLER PROBEN DEN AUFSTAND
Siri saß keuchend auf dem Balkon des Krankenhauses in Pakxe. Obwohl er so weiß war wie sonst nichts in dieser Stadt, befand er sich auf dem Weg der Besserung. Dr. Somdy, seine behandelnde Ärztin, war offenbar eine Koryphäe, was das Beinahe-Ertrinken anging. Sie habe schon so viele Fischer ins Leben zurückgeholt und zur Belohnung so viele Fische erhalten, dass sie sich jeden Morgen im Spiegel auf Kiemen untersuche, erzählte sie.
Sie war eine Frau mittleren Alters mit Wespentaille und chinesischen Zügen. Sie war einst von den Franzosen eingestellt worden und hatte der Klinik in Pakxe auch in schwierigen Zeiten die Treue gehalten. Der kommunistischen Umerziehung war sie nur entgangen, weil das Krankenhaus sie nicht entbehren konnte. Nach Schichtende saßen Siri und sie auf dem Balkon und tranken Tee. Unten auf der Straße nahmen zwei Polizisten einen etwa sechzehnjährigen Jungen in die Mangel. Einer packte ihn am Arm, während der andere eine Schere zückte und ihm die Haare schnitt. Er ging zwar etwas grob zu Werke – der Junge sah aus, als hätte man ihn skalpiert und nicht frisiert –, nahm aber auch kein Geld dafür.
»Geben die Herren eigentlich auch Schmink- und Modetipps?«, fragte Siri, ohne eine Miene zu verziehen.
Somdy lachte. »Geht es in Vientiane etwa nicht so ruppig zu?«
»Ich habe jedenfalls noch nie erlebt, dass Polizisten sich als Hobbyfriseure betätigen«, sagte Siri. »Die Regierung hat eine Reihe von Vorschriften erlassen: Jungen mit langen Haaren, Mädchen mit kurzen Haaren, Händchenhalten, Frauen in Hosen, all das ist streng verpönt. Und im Norden sind die Leute offenbar immer noch so eingeschüchtert, dass sie tun, was man ihnen sagt. Dass die Behörden aktiv gegen die Übeltäter vorgehen, ist mir allerdings neu. Das war ziemlich eindrucksvoll.«
»Wussten Sie, dass hier sogar Fernsehen verboten ist?«
»Was wollen sie denn dagegen unternehmen? Von Tür zu Tür marschieren, mit Hunden, die mit gespitzten Ohren auf thailändische Seifenwerbung lauschen?«
»Das ist nicht nötig, Doktor. Jeden Abend um fünf wird die Antenne eingeholt.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Wörtlich. Zehn Männer mit Seilen legen den Sendemast um. Morgens richten sie ihn wieder auf. Nur so lässt sich gewährleisten, dass die Einheimischen sich nicht an thailändischer Unterhaltung delektieren. Pakxe dient als eine Art Versuchsgebiet für jede noch so alberne Verordnung, die sich die Leute in Vientiane einfallen lassen. Das ist vermutlich die
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