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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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Pfosten. Siri, Civilai und Keuk hockten am Ufer und betrachteten es.
    »Holen Sie den Fang jeden Abend ein?«, fragte Siri.
    »Bis vor Kurzem«, antwortete Keuk mit langem Gesicht.
    »Und an fraglichem Abend fanden Sie den Leichnam, der sich in Ihrem Netz verfangen hatte?«
    »Jawohl.«
    »In welchem Zustand war er?«
    »Soll ich ihn beschreiben?«
    »Ich bitte darum.«
    Langsam, zögernd schilderte Keuk die Leiche genau so, wie Siri sie in Pakxe in Augenschein genommen hatte.
    »Worauf willst du hinaus?«, fragte Civilai.
    »Damit ist meine Theorie hinfällig. Ich hatte mich nämlich gefragt, ob die Splitter vielleicht von der Pritsche des Lieferwagens stammen, mit dem er nach Hause gebracht wurde. Aber dem scheint nicht so zu sein. Ich werde aus der Sache einfach nicht schlau.« Er wandte sich wieder an Keuk. »Ist Ihnen so etwas schon mal passiert?«
    »Mir persönlich nicht. Es ist allerdings nicht ungewöhnlich. Von älteren Kollegen weiß ich, dass sie früher zeitweise mehr Leichen als Fische aus dem Wasser holten. Zum Beispiel, als die Franzosen sich an der Lao Issara rächten. Da haben sie bergeweise Patrioten aus dem Fluss gezogen.« Siri und Civilai sahen sich an. »Aber in letzter Zeit nicht. Einmal habe ich einen Katzenwels gefangen – er hat mir das Netz zerrissen – und einen pa kha .«
    »Was Sie nicht sagen.«
    Siri kramte in seinem Gedächtnis. Pa kha war der laotische Name für die Flussdelfine, die sich einst von China bis hinab zum Delta im Mekong getummelt hatten. Es gab jede Menge Geschichten, in denen pa kha ertrinkenden Fischern das Leben retteten und Langboote durch die Stromschnellen lotsten. Doch Überfischung und Umweltverschmutzung hatten den Lebensraum der Tiere weitgehend zerstört. Und obgleich der Legende nach großes Unglück über die Familie desjenigen kommen würde, der einen pa kha tötete, änderte das doch wenig an dem Umstand, dass auch ein Fischer seine Kinder ernähren musste. Und so war er auf dem Speisezettel der Dorfbewohner gelandet, der pa kha : die Nixe des Mekong.
    »Was haben Sie mit dem Delfin gemacht?«
    »Ich habe ihn befreit, was sonst?«, sagte Keuk. »Hätte ich ihn sterben lassen, wäre der ganze Ort verflucht gewesen. Viele glauben nicht mehr an die alten Geschichten. Ich schon. Ich habe ihn flussabwärts gebracht, zu den Untiefen jenseits der Inseln. Da sind sie sicher. Da fühlen sie sich wohl.«
    »Vor oder hinter den Wasserfällen?«
    »Soll ich es Ihnen zeigen?«

13
DAS NIXEN-RODEO
    Da der Pfad zum Fluss hinunter für den Jeep zu schmal gewesen war, hatte Civilai zähneknirschend in einem Zitronengrashain geparkt, und nun machten sich die drei Männer auf den Weg hinab zum Ufer. Es war ein kleiner Gewaltmarsch, und unterwegs stachen sie gleich in mehrere Nester heißhungriger Insekten. Einmal scheuchten sie eine Schar schwarzbehaubter Flussschwalben auf.
    »Das sind sida -Vögel«, sagte Keuk. »Die ziehen mit den Delfinen. Die pa kha müssen ganz in der Nähe sein.«
    Schließlich kamen sie ans Ende des Pfades und starrten auf den breiten, zäh dahinströmenden Fluss. Für den alten Arzt hatte der Anblick etwas seltsam Befreiendes. Er schien ihn aus einem anderen Leben zu kennen. Dies war eine der wenigen unerschlossenen Stellen entlang des Mekong. Siri fühlte sich leicht benommen, stoned: wie nach ein paar tiefen Zügen an einem Joint.
    »Hm«, machte Civilai. Er saß auf einem flachen Felsen und betrachtete die Hornissen, die über dem silbergrauen Wasser schwebten. »Wir sind also hierhergekommen, um den Flussdelfinen einen kleinen Besuch abzustatten.«
    »Ja.«
    »Und das soll dir helfen, das Rätsel um den Tod des jungen Mannes zu lösen?«
    »Nein. Ja. Ich habe keinen Schimmer. Frag mich nicht. Ich hatte einen Traum.«
    »Na prima. Wenn du schon keine Ahnung hast, wie sich dein Vaterland vor dem Untergang bewahren lässt, kannst du ja wenigstens die Ehre eines tollpatschigen Fischerjungen retten.«
    Siri sah Civilai verdutzt an. »Das war aber nicht nett.«
    »Ich weiß.« Seufzend richtete er den Blick gen Himmel. »Aber … dieses ganze Theater raubt mir noch den letzten Nerv. Ach, Siri.« Da plötzlich traf Siri die Erkenntnis. Sie stürzte förmlich auf ihn ein, wie dicke, ledergebundene Folianten aus einem Regal. Er sah seinem Freund an, dass er noch verzweifelter war, als Siri es sich jemals hätte träumen lassen. Die Welt, die er mit aufgebaut hatte, wurde – wie der Palast – von Plünderern in ihre Einzelteile zerlegt, und er

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