Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
beide zu haben.«
»Also, ich …« Siri erbrach sich heftig, und der Soldat legte dem Doktor seine Jacke um die Schultern. »Ich kann mich über Ihre Fürsorge wahrhaftig nicht beklagen. Sie sind uns doch bestimmt nicht zu Fuß hierher gefolgt, mein Freund?«
»Nein, ich habe einen Jeep.«
»Dann muss ich Sie, glaube ich, um einen weiteren Gefallen bitten.«
»Stehe zu Diensten.«
»Nach diesem kleinen Abenteuer habe ich beste Aussichten auf eine mittelschwere Lungenentzündung. Dabei steht es mit meiner Lunge ohnehin nicht zum Besten. Ich muss so schnell wie möglich nach Pakxe, ins Krankenhaus.«
»Soll ich den Genossen Civilai wecken?«
»Ja, aber nehmen Sie sich in Acht. Ich an Ihrer Stelle würde einen Helm aufsetzen.«
Dtui stand am Wassertank und füllte ihre Eimer. In Gedanken überschlug sie, wie oft sie mit den Eimern würde gehen müssen, um zehn Kilo abzunehmen. Zwar gab es in einem ihrer Lehrbücher eine Formel zur Gewichtsreduktion, doch die war ihr komplett entfallen. Sie hatte sich sämtliche medizinischen Texte zu Gemüte geführt, auf Englisch und Russisch, und große Teile davon auswendig gelernt. Sie las jede Nacht darin, damit sie den Stoff beherrschte, wenn sie im neuen Jahr nach Moskau reiste. Und jetzt hatte sie nur ein paar Tage nicht gebüffelt und ausgerechnet die Formel, die sie persönlich am meisten interessierte, schon vergessen: verbrauchte Kalorien pro Sekunde geteilt durch Körpergewicht mal … Mist, wie war das noch? Wenn sie das schon nicht behalten konnte, wie stand es dann erst um die unwichtigeren Dinge?
Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Lass mir auch noch was übrig, Schwester.« Gefolgt von einem Kichern.
Das war kein Zufall. Dtui hatte die hübsche junge Frau des Sektionschefs Bunteuk beobachtet und sich ihre Gewohnheiten genauestens eingeprägt. Dtui wusste, dass sie um diese Zeit ihr Wasser holte. Sie plauderten ein wenig und lachten viel, wobei Dtui darauf achtete, nicht allzu intelligent zu erscheinen. Sie brachten das Wasser in ihre jeweiligen Haustanks und trafen sich dann auf einen Kaffee am Eckstand. Den Brauch des Kaffeeklatsches hatten sie von ihren Männern übernommen, und nach ein paar zögernden Schlucken gestanden sie einander, dass sie das Zeug insgeheim ungenießbar fanden. Sie kippten die braune Brühe in den Straßenschlamm, und Dtui gab eine Runde warmer roter Limonade aus.
Bis zur Zubereitung des Mittagessens blieb ihnen noch eine halbe Stunde Zeit. Dtui konnte das Thema, das ihr auf den Nägeln brannte, nur anschneiden, wenn sie das Gespräch scheinbar zufällig darauf brachte. Doch so sehr sie sich auch bemühte, es wollte ihr einfach nicht gelingen. Jetzt waren es nur noch fünf Minuten, bevor sie wieder an die Arbeit gehen mussten, und Dtui war sicher, die Chance endgültig verpasst zu haben. Da sagte die junge Frau: »Meine Schwester hat mir geschrieben, dass da drüben jeder einen eigenen Herd hat. Sogar die Armen.«
»Wo drüben?«
»In Amerika.«
Dtui versuchte keine Miene zu verziehen. Der Mann der Frau hatte Phosy erzählt, sie hätten keine Verwandten in den USA. Sie wusste, dass sie auf der richtigen Fährte war. »Na prima. Dann könnt ihr doch bestimmt bald ausreisen, oder?«
»Ich glaube kaum.«
»Warum?«
Die Frau sah zum Wellblechdach hinauf, von dem das Wasser tropfte. »Weil … weil uns damit im Augenblick nicht geholfen wäre.«
»Ha. Das kenne ich. Ich habe Brüder in Australien und darf nicht einmal den Leuten von Australian Aid erzählen, dass ich dort Verwandte habe.«
»Wer sagt das?«
»Na … nein, das spielt keine Rolle.«
»Raus mit der Sprache.«
»Nein, ich habe schon zu viel gesagt.«
»Dein Mann will das Lager nicht verlassen, was?«
»Ich habe ihm mein Ehrenwort gegeben, mit niemandem darüber zu sprechen. Ich kann meine große Klappe einfach nicht halten.«
»Schon gut. Mir kannst du es ruhig sagen. Ich verstehe dich.«
Eine Träne stahl sich in Dtuis Auge. »Aber nur, wenn du mir versprichst, dass du es nicht weitertratscht. Sonst ist mein Leben keinen Pfifferling mehr wert.«
»Du Arme. Ich weiß genau, was du durchmachst.«
»Das bezweifle ich.« Sie sah zu den beiden alten Männern, die wie Leichenbestatter vor ihren Kaffeetassen hockten. Sie senkte die Stimme. »Sonst wüsstest du, was es für eine Qual ist, mit einem Mann zusammenzuleben, der keinen anderen Gedanken im Kopf hat, als die Pathet Lao zu entmachten. Dafür würde Phosy alles tun. In seiner Zeit bei der KLA hat
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