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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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nicht auffielen, mussten sie ihre Rollen spielen. Sie hatte sich eigentlich recht gut geschlagen und ihre Geschlechtsgenossinnen davon überzeugt, dass sie weiter nichts war als eine von unzähligen treuen, braven Ehefrauen, die ihrem wesentlich älteren Mann in ein neues Leben folgten. Selbst Phosy hielt sie für eine starke und mutige Frau. Sie hatte ihm weisgemacht, dass sie seines Schutzes nicht bedurfte und auch ohne ihn bestehen konnte. Doch jetzt, in ihrer ersten Nacht in einem Lager auf ausländischem Boden, begann der Zweifel an ihren Eingeweiden zu nagen. Sie zitterte nicht vor Kälte.
    Es gab viele Gründe, weshalb sie in dieser Nacht nicht den ersehnten Schlaf fand. Sie war hellwach und horchte. Die Paukenschläge auf das Dach machten ihr Angst, die Fremdheit des Lagers, die drohenden Gefahren. Doch selbst wenn sie all das mit einem geeigneten Gebet aus der Welt hätte schaffen können, wusste sie doch, dass sie den ersten Hahnenschrei mit offenen Augen vernehmen würde. Sie verspürte ein Gefühl nervöser Anspannung, das sie sich beim besten Willen nicht erklären konnte, eine Anspannung, wie sie nur eine fünfundzwanzig Jahre alte Frau verspüren kann, die noch nie die Nacht mit einem Mann verbracht hat.

14
SIRI FÄHRT GEN HIMMEL
    Die Wolkenbank, die ihre Wasserlast über dem Lager in Ubon abwarf, konnte sich nicht entscheiden, wie stark sie auf Khong jenseits der laotischen Grenze herabregnen sollte. Nachdem sie einen kurzen, aber heftigen Guss hatte niedergehen lassen, begnügte sie sich schon seit Stunden damit, nur mehr spärlich zu tröpfeln. Dem schwarzen Jeep hatte die Dusche gutgetan. Das Kleid aus roter Erde, in das er sich tagsüber gehüllt hatte, war zu einer Reihe karmesinfarbener Pfützen zerflossen. Stolz und schimmernd stand er unter der einzigen Straßenlaterne in ganz Khong, doch der imposante Anblick war nichts als schöner Schein. Das alte amerikanische Kriegsgefährt hatte seinen letzten General befördert, seine letzte Schlacht geschlagen. Zu wenig Öl, ein überhitzter Kolben, ein kleines, kaum hörbares Knirschen, und schon ist des Menschen genialste Erfindung, der Verbrennungsmotor, nur noch ein knapp zweihundert Kilo schwerer Haufen Schrott.
    Sie hatten Glück im Unglück gehabt. Es hätte ebensogut an einem abgelegenen Ort passieren können, wo ihnen niemand helfen konnte. Aber Civilai hatte den Fischer eben bei seiner Hütte abgesetzt und fuhr durch das Zentrum von Khong zurück in Richtung Pakxe, als der Jeep sein Leben aushauchte. Zum Glück gab es in der Stadt ein Gästehaus, und wie es der Zufall wollte, lag es nur einen Schraubenschlüsselwurf von dem hingeschiedenen Jeep entfernt.
    Sein kurzes Bad in den Fluten des Mekong hatte Siri nicht im Mindesten geschadet. Er hatte die Geistesgegenwart besessen, den Atem anzuhalten und sich an seinen Begleiter zu klammern. Er war gewiss, dass das Tier ihn schon bald wieder Luft holen lassen würde. Doch sein fünfsekündiger Tauchgang hatte Siri eine Vision oder, genauer gesagt, eine Empfindung beschert. Einen Augenblick lang war er der junge Sing gewesen – frierend, zitternd und allein. Es war Nacht, und über seinem Kopf hing ein riesiger Lichtkreis, als schwebte ein Ufo über ihm. Sonst nichts. Woraus Siri schloss, dass die Seele des Jungen weiter flussabwärts getrieben und in den pa kha gefahren war. Keuk, der Fischer, konnte sein Glück kaum fassen. Endlich hatte das Elend seiner Familie ein Ende, und er konnte sich wieder der mühseligen Arbeit des Fischefangens widmen. Siri hingegen war der Lösung des Rätsels um den Tod des Jungen keinen Schritt näher gekommen.
    Siri und Civilai lagen nebeneinander unter einem riesigen Moskitonetz im Schlafraum des Gästehauses. Es war alles andere als eine Luxusherberge. Im Parterre gab es ein Café und einen kleinen Empfangsbereich und darüber einen Schlafraum. Zum Glück mussten sie ihn mit niemandem teilen. Civilais Stimmung befand sich auf dem Nullpunkt. Der Exitus des Jeeps hatte ihm endgültig den Rest gegeben. Er hatte jede Nahrungs- und Kontaktaufnahme verweigert und war um sieben zu Bett gegangen. Siri hatte einen Spaziergang durch den Matsch gemacht, eine ebenso köstliche wie ausgiebige Fischmahlzeit eingenommen und sich gegen halb zehn zur Ruhe gelegt. Er wusste, dass sich sein Freund nur schlafend stellte, als er in das knarrende Bett stieg, aber sein Gefühl sagte ihm, dass es besser war, die kleine Posse mitzuspielen.
    Sein Gewissen raubte ihm den Schlaf, das

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