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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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sagte sie, »oder er wurde unterwegs entführt. Was wohl eher unwahrscheinlich ist, morgens um zehn in einem überfüllten Lager. Also sagen wir, er kam hier an und saß genau da, wo ich jetzt sitze. Von Volleyballern keine Spur, also hat man ihn offenbar unter einem Vorwand hergelockt. Nur warum ausgerechnet hierher?«
    Es gab nur eine logische Erklärung. Es musste sich um einen Fluchtweg handeln. Selbst wenn sie sich auf die Bank stellte, fehlte immer noch ein guter Meter bis zur Spitze des Bambuszauns. Phosy hätte es vermutlich aus eigener Kraft geschafft, doch um Dtui hinüberzuhieven, hätte es schon eines Frontladers bedurft. Sie kletterte wieder hinunter und sah, dass der Hund ein paar Schritte entfernt an dem Zaun kratzte. Er blickte sie an und kratzte weiter, als wollte er hinausgelassen werden. Dtui ging am Zaun entlang und rüttelte an den Bambuslatten. Sie gaben alle kein Stück nach, bis zu der Stelle, wo der Hund saß. Dort ließ sich der Zaun zwar nicht ohne Weiteres öffnen, er schien aber auch nicht fest vernagelt zu sein. Sie schob die Finger zwischen die Latten, bis sie genügend Halt gefunden hatte, um sie nach vorn zu ziehen. Die freudige Reaktion des Hundes verriet ihr, dass er das Lager nicht zum ersten Mal auf diesem Weg verließ.
    Der Zaun kippte an einer Art Scharnier nach vorn, und der Hund hetzte durch die Lücke. Letztere war zwar nur knapp dreiviertel Dtui breit, aber da ihr voluminöser Körper weich und biegsam war, quetschte sie sich hindurch wie eine Qualle durch einen Briefkastenschlitz. Auf der anderen Seite angekommen, richtete sie sich keuchend auf und ordnete ihre Kleider. Sie hatte sich soeben auf illegalem Weg aus einem Flüchtlingslager gestohlen. Dtui, die Ausbrecherkönigin. Das Ganze war furchtbar aufregend. Zwar hatte sie keine Ahnung, was dieses irrwitzige Unterfangen bringen würde, aber es war ein gutes Gefühl, endlich aktiv zu werden. Wesentlich besser jedenfalls, als Bruder Fred hinterherzulaufen. Und war es nicht genau das, was von einer liebenden Ehefrau erwartet wurde?
    Sie schaute sich um. Sie stand auf einer Lichtung. Ein Großteil der umliegenden Wälder war dem Erdboden gleichgemacht worden, um das Lager zu errichten. Sie stellte sich vor, wie sehr das die Baumgeister in Aufruhr versetzt haben musste, und fragte sich, ob die thailändischen phibob wohl genauso rachsüchtig waren wie die in Laos. Inmitten der Rodung stand ein kümmerlicher Baum. Er war eindeutig zu dürr und spindelig, um brauchbares Holz zu liefern. Er war knorrig und verwachsen, wie ein verzauberter Baum aus einer Sage. Doch trotz seiner Missgestalt trug er ein dichtes, sattgrünes Blätterkleid, und seine Samenschoten waren aufgebrochen und verstreuten ihren Reichtum übers Land. Innen waren die geplatzten Schoten leuchtend rot, und aus der Ferne sah es aus, als habe der Mutterbaum geblutet, als er seinen Nachwuchs hervorgebracht hatte.
    Dtui trat näher und griff nach einer Schote. Sie war so groß wie ihre Hand. Staunend betrachtete sie das eigenartige Gewächs. Noch nie hatte sie eine Pflanze gesehen, die so sehr an ein menschliches Körperteil erinnerte. Die Ränder der Schote rundeten sich zu Lippen. Wo sie zusammenliefen, bildete eine pralle, feuchte Knospe die Klitoris. Und am anderen Ende, wo der Stiel der Schote in eine Gabel auslief, die sie mit dem Baum verband, befand sich ein dunkler Kanal. In der Geburtsheilkunde hatte Dtui schon oft mit solchen Organen zu tun gehabt, aber sie waren stets Teil der weiblichen Anatomie gewesen. In ihrer Hand lag eine echte …
    » Yonee peesaht «, sagte eine tiefe Stimme hinter ihr. Peinlich berührt fuhr sie herum und sah sich einem lächelnden alten Mann mit Cowboyhut gegenüber, der eine Steinschleuder in der Hand hielt. »Auch Teufelsvagina genannt. Da sind Sie platt, was?«
    Die Gegenwart einer entflohenen Illegalen schien ihn nicht im Mindesten nervös zu machen. Seinem Arsenal nach zu urteilen war er jedoch alles andere als ein Kopfgeldjäger.
    »Es ist unglaublich«, sagte sie. »So etwas sehe ich zum ersten Mal.«
    »Neulinge können sich ein Kichern meistens nicht verkneifen. Früher gab es die hier überall. Die jungen Burschen haben angeblich so viele Schoten zum Sie-wissen-schon gestohlen, dass zur Arterhaltung nicht mehr genügend Samen übrig waren. Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht.«
    Dtui lachte. »Onkel, es würde mich nicht wundern, wenn Sie sich das gerade ausgedacht hätten.«
    »Mich auch nicht.«
    Sie sprachen

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