Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
finden konnte?«
»Ähm …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Mim, du musst es mir verraten.«
»Ich weiß, aber …«
»Mim.«
»Unter der neuen Brücke.«
»Welche neue Brücke?«
»Die zum Flughafen. Sie ist noch nicht ganz fertig. Und darunter liegen lauter große Rohre und Ziegelsteine und so. Da haben wir uns eine Höhle gebaut.«
»Hättest du etwas dagegen, wenn ich mir die morgen mal ansehe?«
»Meinetwegen. Ich gehe da nicht mehr hin, jedenfalls nicht … nicht allein.«
»Ich weiß. Aber vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Sings Geist spürt, wenn du bedrückt bist oder dir Vorwürfe machst. Du willst doch nicht, dass sein Geist traurig wird, oder?«
»Nein.«
»Es gibt nämlich nichts Schlimmeres als einen traurigen Geist. Ich habe mal einen gesehen. Er hat sich ganz fürchterlich betrunken und ist mit dem Fahrrad gegen einen Baum gefahren.«
Sie lachte, und ihre Miene hellte sich auf. »Geister können doch überhaupt nicht Radfahren.«
»Nein? Wahrscheinlich ist er deshalb gegen den Baum gekracht.«
Hand in Hand gingen sie zum Fest zurück.
17
BRUDER FRED
Dtui war außer sich vor Sorge. Seit Einbruch der Dunkelheit befand sie sich in heller Panik, weil sie nicht wusste, wie lange eine junge Ehefrau zu warten hatte, bis sie ihren Mann als vermisst melden durfte. Manchmal riefen die Wachtposten abends zum Zählappell oder führten in diesem oder jenem Bereich des Lagers unangemeldete Kontrollen durch. Um sieben war sie in Bunteuks Hütte gegangen und hatte ihn gefragt, ob er Phosy gesehen habe. Der Sektionschef saß auf dem Boden und spielte mit Freunden Karten. Er habe Phosy den ganzen Tag noch nicht gesehen, sagte er, aber sie solle sich keine Gedanken machen, er habe sich vermutlich irgendwo verplaudert und darüber die Zeit vergessen. Sehr weit könne er naturgemäß nicht sein.
Um halb neun war Dtui mit ihrer Geduld am Ende. Das gehörte sich für eine Ehefrau zwar nicht, aber sie hatte schlicht und einfach Angst um ihren Freund. Sie ging ein zweites Mal zu Bunteuk und bat ihn inständig, sie zur Lagerleitung zu begleiten, um eine Vermisstenmeldung aufzugeben. Bunteuk delegierte diese Aufgabe an seinen Stellvertreter Herrn Kumhuk, der sich nur ungern von seinem Kartenspiel loseisen ließ. Auf dem Weg zur Verwaltung riet er ihr, sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen.
In Thailand gab es für jeden Anlass ein spezielles Formular, so auch für diesen. Der diensthabende Polizist füllte es umständlich und widerwillig aus: Name(n), Anschrift, Art der Beschwerde, Einzelheiten, Unterzeichnende(r), Zeuge(n), Datum, Uhrzeit. Nachdem er das Formular in den Posteingangskorb gelegt hatte, fragte Dtui den Beamten unwirsch, was er in dieser Angelegenheit zu unternehmen gedenke. Er ermahnte sie, ihr Temperament zu zügeln und daran zu denken, wer und was sie sei. Ihr Mann werde sich schon wieder einfinden, vermutlich gegen Mitternacht, stockbesoffen und in eine Wolke billigen Parfüms gehüllt, wie die ganzen miesen Dreckslaoten.
Ihre spontane Reaktion auf diese Bemerkung hatte Dtui eine Nacht in der Zelle für gewalttätige Lagerinsassen beschert, einem primitiven, drei mal drei Meter großen Gitterverschlag im hinteren Teil der Polizeiwache, in dem nur eine schmale Holzbank stand. Jetzt, um sechs Uhr morgens, lief sie schnaufend wie ein Wildschwein in ihrem Eisenkäfig auf und ab und wartete auf die Wachablösung. Sie sah, wie der Nachtschichtkomiker sich mit zwei jüngeren Männern unterhielt, bis sich einer von ihnen in den Zellentrakt bemühte. Er sah zwar besser aus, war aber nicht minder arrogant. Sie holte tief Luft.
»Kann ich jetzt gehen?«, fragte sie.
»Nur, wenn Sie mir versprechen, keinen Ärger mehr zu machen.«
»Är…? Ich bin hierhergekommen, um meinen Mann als vermisst zu melden. Nennen Sie das Ärger machen?«
»Nein. Aber einen Faustschlag ins Gesicht eines Beamten der königlich-thailändischen Polizei könnte man durchaus in diesem Sinne deuten.«
Sie lächelte. »Ich habe ihn nicht geschlagen.«
»Er behauptet das Gegenteil. Und die Tomate, die er anstelle einer Nase im Gesicht trägt, spricht für seine Version.«
»Ach was! Ich bin mit meinen matschigen Sandalen auf Ihrem Betonfußboden ausgerutscht, und als ich den Arm ausstreckte, um mich abzustützen, habe ich versehentlich die Nase Ihres Kollegen erwischt. Ein bedauerlicher Fehlgriff.«
Lachend öffnete der junge Mann die Käfigtür. Das Vöglein wollte eben ausfliegen, als er sie unsanft
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