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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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das in dem alten Mann den Wunsch wachrief, wieder zehn Jahre alt zu sein.
    »Kommst du oft hierher?«, lallte er.
    »Früher schon«, antwortete sie.
    »Und warum jetzt nicht mehr?«
    »Weil Sing tot ist.«
    Im Nu war Siri wieder nüchtern.
    »War Sing dein Freund?«
    »Ja.«
    »Dann fehlt er dir bestimmt.«
    »Ja.«
    Sie schlang die Arme um ihre angezogenen Knie und vergrub die nackten Zehen im Schlamm. Was soll man einer Zehnjährigen sagen, die ihren besten Freund verloren hat?
    »Du weißt, dass seine Seele jetzt in einem pa kha wohnt?«
    »Ja. Genau darum bin ich hier. Kann ich … mit Sing sprechen?«
    »Nicht mit Worten.«
    »Wie denn sonst?«
    »Mit dem Herzen.«
    »Aber ich weiß doch gar nicht, wie das geht, Großvater.«
    »Ganz einfach. Hast du manchmal das Gefühl, dass dir das Herz zerspringen möchte, wenn du an ihn denkst?«
    »Jedesmal.«
    »Siehst du? Sein Geist spürt das.«
    »Wirklich?«
    »Und wenn du an ihn denkst und seinen Namen vor dich hinsagst, kann Sings Geist dich sogar hören.«
    Sie verzog die Lippen zu einem Lächeln und blickte auf die schimmernden Lichter am anderen Ufer. Dann sah sie Siri mit dem ernsten Gesichtsausdruck eines Erwachsenen an und fragte: »Meinen Sie, er musste sterben, weil er immer so frech und ungezogen war?«
    »Nein. Kein Zehnjähriger könnte so frech und ungezogen sein, dass er dieses Schicksal verdient hätte.«
    »Er hatte nur Flausen im Kopf. Es fing an, kurz nachdem sich sein Vater aus dem Staub gemacht hatte.«
    »Was hat er denn angestellt?«
    »Er hat sich in … aber das dürfen Sie niemandem verraten, ja?« Siri schüttelte den Kopf. »Er hat sich in den Tempel geschlichen und das Blattgold von den Buddhas gekratzt. Das ist doch eine Sünde, oder?«
    »Nun … wie heißt du eigentlich, Kleines?«
    »Mim.«
    »Nun, Mim, man könnte darüber streiten, ob Gold in einem Tempel überhaupt etwas zu suchen hat. Aber du hast recht, Stehlen gehört sich nicht.«
    »Und er konnte klettern wie ein Affe. Am Wochenende, wenn alles geschlossen hatte, ist er am Rathaus oder am Postamt hochgeklettert, und wenn er ein offenes Fenster fand, ist er eingestiegen und hat alles mitgehen lasen, was nicht niet- und nagelfest war.« Ihr kamen die Tränen. »Und … und ich hab’ immer gesagt: ›Sing‹, hab’ ich gesagt, ›wenn du dich nicht besserst …‹« Sie begann zu schluchzen, und Siri rückte näher an sie heran und legte ihr den Arm um die Schultern. Mühsam stieß sie hervor: »Ich hab’ gesagt: ›Wenn du dich nicht besserst, kostet dich das irgendwann noch mal das Leben.‹ Das habe ich gesagt, Großvater. Ich habe ihn verflucht.«
    Ein Weinkrampf schüttelte sie, und Siri zog sie an seine Brust.
    »Aha«, sagte er. »Verstehe. Und jetzt denkst du, weil du all das zu ihm gesagt hast, ist es deine Schuld, dass er tot ist.« Er spürte, wie sie nickte. »Also, so einen Quatsch habe ich ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört. Und mir ist wahrhaftig schon allerhand Unsinn zu Ohren gekommen. Mim, ganz gleich, was du zu ihm gesagt hast, an seinem Tod trifft dich keine Schuld. Ich spüre, wenn die Geister böse sind, und Sings Geist weiß, dass du mit seinem Ableben nichts zu tun hattest. Du hast lediglich versucht, ihn vor einer großen Dummheit zu bewahren. Dafür sind Freunde schließlich da. Er nimmt dir das nicht übel. Glaubst du mir?«
    Ihr Nicken wirkte wenig überzeugend. Sie hob den Kopf, sah Siri an und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Ich wusste es, Großvater«, sagte sie. »Ich wusste, dass er nichts Gutes im Schilde führte an dem Tag, als er verschwunden ist. Ich habe versucht, ihn davon abzubringen.«
    »Du hast ihn gesehen?«
    »Wir sind immer zusammen zur Schule gegangen. Wenn er nicht gerade geschwänzt hat.«
    »Und an diesem Tag?«
    »Hat er gesagt: ›Pfeif drauf. Ich gehe nicht zur Schule.‹ Ich glaube, er hatte ein Buch vergessen oder so und hatte Angst, dass der Klassenlehrer ihn verspottet.«
    »Hat er gesagt, wohin er wollte?«
    »In die Stadt. Am Wochenende sind wir zum Spielen immer in die Stadt gegangen.«
    »Und wo hat er sich am liebsten herumgetrieben?«
    »In der Stadtverwaltung.«
    »Hm. Aber es war kein Wochenende. Sämtliche Büros hatten geöffnet. Alles war voller Leute. Und wenn er einfach in seiner Uniform durch die Gegend spaziert wäre, hätte ihn mit Sicherheit jemand angehalten und in die Schule gebracht, nicht zuletzt die Polizei. Hattet ihr vielleicht so etwas wie ein Geheimversteck? Wo euch niemand

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