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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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War er aus lauter Langeweile schwimmen gegangen und hatte sich dabei verletzt? War er mit dem Kopf aufgeschlagen und ertrunken? Weder gab es Hinweise auf ein Schädeltrauma, noch sprach etwas dafür, dass er sich in einer Wurzel oder einem Netz verfangen hatte. Doch selbst wenn, die Ungereimtheiten blieben bestehen: die fünf Tage, die zwischen seinem Verschwinden und dem Leichenfund vergangen waren, der unterschiedliche Grad der Zersetzung von oberer und unterer Körperhälfte, die Splitter, die Insektenstiche.
    Im Grunde handelte es sich um eine Bagatelle, die außer den Leuten im Dorf niemanden interessierte. Richter Haeng würde ihm für die Klärung eines solchen Falles jedenfalls keinen Orden verleihen. Sondern ihm wieder einmal den Marsch blasen, weil er seine Zeit verschwendete. Doch diese Bagatelle ließ ihm keine Ruhe. Er wollte das Rätsel lösen, koste es, was es wolle. Selbst auf die Gefahr hin, dass das Land vor die Hunde ging. Also versuchte er, sich in Sings Gedanken zu versetzen.
    »Stichwort Ärger. Stichwort Unheil. Wie schaffe ich es, dass mein Vater wieder nach Hause kommt? Es ist Mittwochmittag. Die Langeweile beflügelt meine bösartige Fantasie. Ich brauche etwas, womit ich in der Schule angeben kann. ›Ihr glaubt ja nicht, was ich gestern gemacht habe, ich …‹ Komm, kleiner Sing, sag Großvater Siri, was du angestellt hast.«
    Die Sonne hatte sich durch die Wolken gebrannt und tauchte den Platz unter der halbfertigen Brücke in tiefschwarzen Schatten. Siri trat ins grelle Licht hinaus und rief: »Wie kann ich euch beweisen, dass ich ein Mann bin?«
    Als seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnten und die verschwommenen Umrisse Pakxes allmählich ihre gewohnte Klarheit zurückgewannen, zeichnete sich am anderen Ufer eine riesiges, bedrohliches Gebilde ab. »Ich bin ein Symbol von Macht und Reichtum«, sagte es herausfordernd. »Ich bin besser als du, und ich bin unbesiegbar.«
    Und Siri wusste, wo Sing an jenem Mittwoch hingegangen war.
    Bruder Fred war völlig durch den Wind. Der einzige Fall, den er persönlich übernommen hatte, drohte sich zu einem Fiasko von nationalen – wenn nicht internationalen – Ausmaßen zu entwickeln. Es war eine Katastrophe auf der ganzen Linie. Erst hatte er die Frau verloren, und nun konnte er sie nirgends finden. Sein angeborener katholischer Pessimismus sagte ihm, dass sie dasselbe traurige Schicksal ereilt hatte wie ihren Mann. Trotzdem hatte er den geballten Einfluss seiner Kirche geltend gemacht und eine Suchaktion in die Wege geleitet. Er hatte eine halbe Stunde mit dem Leiter seiner Mission in Bangkok telefoniert. Er hatte sogar für ihre Sicherheit gebetet. Sein thailändischer Dolmetscher hatte gesagt: »Ich bewundere Ihre Anteilnahme, Herr Pfarrer. Aber es sieht eigentlich eher nach einem Liebesdrama als nach einer Entführung aus.«
    »Warum?«, hatte Bruder Fred gefragt.
    »Weil auch Bunteuk, der Chef der fraglichen Sektion, seine Frau als vermisst gemeldet hat. Es heißt, der Neue hatte ein Verhältnis mit Bunteuks Frau, und die beiden sind zusammen durchgebrannt.«
    »Ach was.«
    »Die Leute glauben, die Dicke sei darüber so bestürzt gewesen, dass sie das Lager fluchtartig verlassen hat. Angeblich wollte sie zurück nach Laos.«
    Die Geschichte hätte den jungen Iren gewiss beruhigt, wären »die Dicke« und ihr untreuer Gemahl nicht ziemlich genau zehn Minuten, nachdem der Dolmetscher gegangen war, in sein Büro spaziert. Der Mann, dessen Gesicht mit blauen Flecken und Platzwunden förmlich übersät war, hatte einen großen Karton mit Akten und Papieren bei sich. Sie machten die Tür hinter sich zu, verriegelten sie, und obwohl sie sich bereits in einem Flüchtlingslager befanden, beantragten sie Asyl. Bruder Fred war verwirrt. Er hatte sein kleines Büro bislang eigentlich nicht als eine potenzielle Insel diplomatischer Immunität betrachtet. Aber internationales Recht war nicht eben seine Stärke, und so braute er Tee für drei und hörte sich an, was die beiden zu berichten hatten.
    Als sie das Hüsteln hörte, glaubte Dtui, ihr letztes Stündlein habe geschlagen. Sie hatte sich langsam umgedreht, in der festen Überzeugung, dass eine Waffe auf sie gerichtet und ihr Schicksal so gut wie besiegelt war. Stattdessen stand dort, eingeklemmt zwischen deckenhohen Stapeln weißer Holzkisten mit der Aufschrift VORSICHT GIFT , eine exakte Kopie des Eisenkäfigs, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatte. Auf dessen Boden, im

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