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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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zum Zaun, wo er durch die Lücke verschwand.
    Sofort eilte Dtui zu der Stelle, an der Herr Kumhuk aufgetaucht war, konnte den Einstieg jedoch nicht finden. Überall nur Grasbüschel und Steine, nirgends die Umrisse oder gar Griffe einer Falltür. Da sah sie es: eine leichte Verfärbung der Vegetation, ein winziges Stück, das nicht ganz so öde und vertrocknet war. Sie packte eine Handvoll Gras und merkte sofort, dass es künstlich war, irgendein synthetisches Material. Sie zog mit aller Kraft daran und hob ohne größere Schwierigkeiten ein Stück Lehm aus dem Boden. Sie stieß es beiseite und starrte in die Öffnung. Schon wieder ein dunkles Erdloch. Hatte sie davon nicht ein für alle Mal genug? Unheimliche, enge Räume schienen sie magisch anzuziehen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte es sie fast das Leben gekostet, dass sie blindlings in einen lichtlosen Tunnel hineingelaufen war. Je nun. Que será será .
    Sie tastete sich mit den Fußspitzen voran und ging Stufe um Stufe hinunter. Die Treppe war aus Beton und führte tief in die Erde. Schon beschlich sie ein mulmiges, klaustrophobisches Gefühl, das erst verflog, als sie den Sicherungskasten am Fuß der Treppe entdeckte. Sie legte den Schalter um, und unzählige Neonröhren flammten eine nach der anderen auf und erhellten einen gewaltigen Bunker. Sie sah Tische, Feldbetten und Hunderte, wenn nicht Tausende von riesigen Kisten. Reihenweise Schusswaffen und säuberlich gestapelte Uniformen säumten die Wände. Dies war die Einsatzzentrale der Teufelsvagina-Rebellen; da gab es für sie keinen Zweifel. Auch bestand kein Zweifel, dass die Thais den Zaun errichtet hatten, damit die neugierigen UN -Beamten nicht zufällig auf dieses Schlangennest inmitten eines vermeintlich neutralen Lagers stießen. Die Thais wussten Bescheid. Kein Wunder. Im thailändischen Militär grassierte die Kommunistenangst. Und die Unmengen amerikanischer Souvenirs legten den Schluss nahe, dass auch die USA nicht die Absicht hegten, den Krieg verlorenzugeben und sich dezent zurückzuziehen. Dtui konnte sich kaum vorstellen, dass die Amerikaner schlicht vergessen hatten, den ganzen Plunder wieder mitzunehmen.
    Es gab weder Seitenflügel noch Nebenräume. Nur dieses eine riesige Gewölbe. Ein abgeteilter Bereich schien der Planung zu dienen. Eine Reihe von Stühlen mit klappbarer Schreibfläche stand vor einer Tafel, umringt von diversen Landkarten und Lageplänen. Sie überlegte, wie sie am besten vorgehen sollte. Sich so viele Unterlagen wie möglich schnappen und verschwinden? Nur wohin? Bis zur laotischen Grenze waren es mindestens sechzig Kilometer. Wie weit würde sie kommen? So viele Namen und Daten konnte sie sich unmöglich merken. Sie wusste ja nicht einmal mehr, wie man den Kalorienverbrauch berechnete. Vielleicht sollte sie einfach Feuer legen und den ganzen Laden in die Luft jagen. Das würde ihr genügend Zeit geben, Siri und Civilai in …
    Ihre Entdeckung, ihre Euphorie, ihr Traum von der Rettung ihres geliebten Vaterlandes, das wilde Pochen ihres Herzens, mit alldem war es schlagartig vorbei, als sie hörte, wie sich nur ein paar Meter hinter ihr eine tiefe Männerstimme hustend räusperte.

18
EIN FERNSEHER AUS PAPPE
    Siri saß in der mannshohen Betonröhre unter der unfertigen Sowjetbrücke und betrachtete die krakeligen Kreide– und Buntstiftverzierungen, die ein Stück Kanalrohr in ein Clubhaus für zwei zehnjährige Freunde verwandelten. Gesprungene Tassen und Gläser, kleine Teller mit Flusskieseln, ein Pappkarton mit einem Loch in Form eines Fernsehbildschirms, eine aus einer Schnur und einer Sardinenbüchse bestehende Alarmanlage, die er bei seiner Ankunft ausgelöst hatte. Zeugnisse unbeschwerter Kindheitsfantasien, schöner Momente, die nichts und niemand so plötzlich hätte ausradieren dürfen.
    Wieder wischte Siri sich die Tränen von den Wangen und schloss die Hand um das Amulett unter seinem Hemd. Obwohl dem Talisman die wunderschöne, frischgeflochtene Haarschnur zu gefallen schien, hatte er Siri nichts über Sings Verschwinden mitzuteilen. Die Seele des Jungen war weit weg und tollte fröhlich mit den Delfinen umher, doch sein Tod blieb ungeklärt und ungesühnt.
    Siri stellte sich vor, wie der kleine Kerl die Schule schwänzte, hier in seinem Clubhaus saß und immer neues Unheil ausheckte. Er wusste, dass ihn ein braver Bürger aufsammeln würde, wenn er in seiner Schuluniform durch die Straßen wanderte. Wie lange hielt so ein umtriebiger Knirps das aus?

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