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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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Bestie. Dies war die Waffe, die unerwünschte Eindringlinge abschreckte. Die beiden brauchten keine Gewehre und Pistolen.
    Aus den Augenwinkeln sah Siri, wie Wachtmeister Tao mit der Frau rang. Sie kratzte und fauchte wie eine Katze. Der Polizist hatte ihr von hinten die Arme um die Brust geschlungen, doch sie war dem übergewichtigen Kader mehr als gewachsen. Er würde Siri so bald wohl nicht zu Hilfe kommen können. In seiner Zeit in Paris hatte Siri gerungen, wenn auch in der untersten Gewichtsklasse. Wäre sein Angreifer mehr als ein lebendes Skelett gewesen, hätte Siri nicht die geringste Chance gehabt. Trotzdem flehte er Buddha an, ihm einen Bruchteil seines früheren Könnens zurückzugeben, damit er den Mann überwältigen konnte, der ihn grün und blau zu prügeln drohte. Siri krümmte die Finger zu Klauen, krallte sie dem um sich schlagenden Bruder ins Gesicht und stieß ihn so weit von sich, dass die Hiebe ihn nicht mehr mit voller Wucht trafen und er einen Moment Atem holen konnte. Mit einem letzten Stoß brachte er den Mann aus dem Gleichgewicht, sodass er zur Seite kippte und in den Matsch fiel. Siri nutzte den Schwung, wälzte ihn auf den Bauch und stürzte sich von hinten auf ihn. Er schob die Arme unter den Achseln seines Gegners hindurch und verschränkte die Hände in dessen Nacken.
    Schäumend vor Wut, trat der bewegungsunfähige Mann heftig mit den Fersen. Der erste Tritt traf Siri am Schienbein, und ein höllischer Schmerz durchzuckte seinen Körper. Das Blut aus seinem Ohr floss ihm in die Augen und nahm ihm die Sicht. Trotzdem gelang es ihm, ein Bein um das seines Angreifers zu haken und ihn kampfunfähig zu machen. Und so lagen sie im Dreck, ineinander verschlungen wie die Figuren eines indischen Steinreliefs aus dem Kamasutra . Siri keuchte schwer und fragte sich bei jedem Atemzug, ob es sein letzter war.
    »Nicht übel, Doktor«, sagte Tao, noch immer in seinem grotesken Tanz mit der Schwester gefangen. Sein Mund war dicht an ihrem Ohr. »Genossin, wenn Sie sich endlich beruhigen würden, könnten wir vielleicht …«
    »Ich bin nicht deine Genossin, du dreckiger roter Hurensohn«, kreischte sie.
    »Mit Schmeicheleien kommen Sie bei mir nicht weiter«, sagte Tao. Sie trat ihm mit der Ferse gegen das Schienbein, und er fluchte halblaut. Um sie außer Gefecht zu setzen, sank er auf die Knie und zog sie mit sich. Einen Augenblick lang waren nur die Atemzüge der vier Kombattanten zu hören.
    »So, Doktor«, sagte Tao schließlich. »Und jetzt?«
    Siri wandte den Kopf und sah zu Tao und der Frau, die vor Wut rot angelaufen war.
    »Er hat es getan, nicht wahr?«, sagte er. »Ihr Bruder hat den Jungen in den Wasserturm geworfen.«
    »Von mir erfährst du gar nichts, du mieses Kommunistenschwein.«
    »Passen Sie auf, Sie alte Hexe, hier geht es nicht um Politik. Es ist mir scheißegal, wem oder was Ihre Sympathien gelten. Mich interessiert einzig und allein der kleine Junge, den Ihr Bruder in diesem Betongrab hat verrecken lassen.«
    »Dafür haben Sie keinerlei Beweise«, sagte sie.
    Der Bruder versuchte sich zu befreien, doch Siris Griff war wie ein Schraubstock.
    »Wenn Sie sich da mal nicht gewaltig irren«, sagte Siri. »Sie haben ja keine Ahnung, über was für Wunderwerke der Technik wir am Institut für forensische Wissenschaft in Vientiane verfügen. So könnte ich zum Beispiel ohne Weiteres nachweisen, dass die Zeichnung in Ihrer Zisterne mit den Steinen in Sings Hosentasche angefertigt wurde. Außerdem würde es mich nicht wundern, wenn wir seine Haare im Wasser fänden. Und wissen Sie was? Ich wette, wenn wir hinters Haus gehen, werden wir feststellen, dass die Rutsche, über die die Bauarbeiter seinerzeit ihren Schutt in den Fluss gekippt haben, aus demselben Holz besteht wie die Splitter im Rücken des Jungen. Sie haben seine Leiche gefunden, sie in den Garten geschleppt und ihn wie Müll in den Xedon geworfen. Sie beide sind wirklich und wahrhaftig böse.«
    »Ich war’s«, sagte sie.
    »Was?«
    »Ich war’s. Ganz allein. Er hatte nichts damit zu tun.«
    »Tatsächlich? In diesem Fall würde ich Ihnen raten, ihm ein paar besänftigende Worte zuzuflüstern, bevor wir zusammen aufs Revier fahren. Sonst wird Ihnen diese Geschichte wohl kaum jemand abnehmen.«
    »Wird er … falls … wenn ich verurteilt werde, kümmert sich dann jemand um ihn?«
    »Das Schöne am Sozialismus«, sagte Siri, »ist, dass alle – ungeachtet ihres geistigen oder körperlichen Zustands – gleich

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