Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
auf sich allein gestellt.«
»Er ist ni…« Sie scharrte mit den Hufen wie eine nervöse Stute.
»Dabei drängt sich mir eine Frage förmlich auf.« Siri ließ ihr keine Zeit zum Widerspruch. »Ihr Bruder ist eine ziemlich furchteinflößende Gestalt. Wie das wohl auf kleine Kinder wirkt? Ich wette, er würde eine hervorragende Zielscheibe für eine Mutprobe abgeben. Angenommen, ein Kind lässt sich auf diese Mutprobe ein und schnüffelt im Palast herum. Sagen wir, es stemmt den Boden auf und nimmt eine Fliese als Andenken mit.«
»So etwas hat es hier noch nie gegeben.«
»Ich weiß. Trotzdem. Wie würden Sie und Ihr Bruder im Falle eines Falles damit umgehen?« Siri spürte, dass sie nicht nur wütend war. Sie hatte Angst. Unter ihrem rechten Auge hatte sich ein nervöses Zucken breitgemacht, dem sie durch zorniges Zähnefletschen entgegenzuwirken versuchte.
»Ich … ich würde ihm dringend raten, sich zu bessern und … und den Flegel dann nach Hause schicken.«
»Gewiss doch. Aber eins sollten wir nicht vergessen – ein Kind ist nicht unbedingt ein Junge, nicht wahr? Es könnte schließlich auch ein Mädchen gewesen sein.«
»Wenn überhaupt, dann eher ein Junge.«
»Sie meinen, ein Junge würde eher durch eines der riesigen Fenster auf der Flussseite steigen und sich unbeaufsichtigt hier herumtreiben. Unheil stiften. Widerworte geben. Richtige Rotznasen sind das, diese Jungs, nicht wahr?«
»Keine Ahnung.«
»Aber ja. Und sie haben keinerlei Respekt vor der Königsfamilie.«
»Das kann man wohl sagen.«
»In der Schule haben sie vermutlich gelernt, dass Seine Herrlichkeit sich durch Hehlerei, Schutzgelderpressung und Drogenhandel eine goldene Nase verdient hat. Dass er nicht einmal davor zurückschreckte, den Kommunisten in Vietnam Waffen zu verkaufen, nur um ein paar zusätzliche Fr…«
»Alles Unsinn. Das hat er nie getan.« Sie ballte so heftig die Fäuste, dass sich ihre Knöchel weiß verfärbten.
»Nur um ein paar zusätzliche Francs für seinen Ruhestand einzustreichen. Wenn Kinder so etwas hören, plappern sie es selbstverständlich nach, wenn in ihrer Gegenwart jemand den Prinzen verteidigt. Das ist nur natürlich.«
»Alles Verleumdungen – widerwärtige sozialistische Propaganda. Wie kann man Kindern so gemeine Lügen auftischen?«
»Wie hätte er es denn besser wissen sollen? Er kannte es doch nicht anders. Unter dem royalistischen Regime hatte seine Familie gehungert, während der Oberbonze unendlichen Reichtum anhäufte und sich einen obszönen Palast baute. Er wollte keinen Ärger machen. Er wollte nur verstehen.«
»Er hatte keinen Respekt.«
»Respekt wovor?« Sie waren nach und nach so laut geworden, dass sie sich jetzt anbrüllten, obwohl sie nur ein knapper Meter trennte.
»Vor den stolzen und hochherzigen Königsfamilien, die den Süden unseres Landes über Jahrhunderte regiert haben. Vor den großen Schlachten zum Wohle unseres Volkes. Vor der Kultur, die sie uns geschenkt haben.«
»Ach ja? Vielleicht hat er sich aber auch gefragt, weshalb er – bei aller Kultur und allen Wohltaten – immer noch in einer Hütte im Dreck vor sich hin vegetierte.«
»Seinesgleichen wird immer im Dreck leben. Diese Schicht hat die Chancen, die man ihr bietet, noch nie genutzt.«
»Zu dieser Schicht gehören circa fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung. Das sind verdammt viele Menschen, die Ihre hehren ›Chancen‹ leichtfertig verschenken. Vielleicht hat sich der Junge als ihr Vorkämpfer und Ehrenretter verstanden. Vielleicht hat er geglaubt, für das erlittene Unrecht Rache nehmen zu können, wenn er hierherkam und in Ihr Schloss eindrang.«
»Vielleicht war er aber auch nur ein ungehobelter Lümmel, der Ärger suchte. Haben Sie daran schon mal gedacht?«
Siri senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Und diesen Ärger hat er hier gefunden, nicht?«
Sie verstummte und starrte zu Boden. Siri nickte Tao zu.
»Wir würden uns gern Ihren Wasserturm anschauen, Genossin«, sagte der Polizist und machte einen Schritt auf den bedrohlich aufragenden Betonkoloss zu. In den Augen der Frau blitzte ein Funke, und sie warf erst Tao, dann Siri einen hasserfüllten Blick zu.
»Das hier ist Privatbesitz. Und jetzt runter von unserem Grundstück«, fauchte sie.
Tao lächelte. »In der Demokratischen Volksrepublik Laos gibt es keinen Privatbesitz«, sagte er. »Wenn Sie dann so freundlich wären und vorangehen würden.«
An der Leiter ließen sie ihr den Vortritt. Oben angekommen, stellte
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