Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
behandelt werden.« Er hatte eigentlich »gleich schlecht« sagen wollen, aber das würde sie noch früh genug am eigenen Leib erfahren.
»Gut.« Sie fing an zu singen. Eine alte Volksweise, die Siri noch aus seiner Zeit im Süden kannte. Obwohl die Sprechstimme der Frau schrill und nervtötend klang, sang sie wunderschön. Siri spürte, wie der Bruder sich in seinen Armen entspannte, und hörte, wie er einen tiefen Seufzer ausstieß. Als Siri seinen Griff lockerte, blieb der Mann ruhig liegen. Bisweilen bezähmt ein Lied selbst das wildeste Gemüt.
20
EIN DREIFACH HOCH AUF DIE SPIONE
Auf dem Polizeirevier in Pakxe hatte Dr. Somdy die Wunden des Leichenbeschauers verarztet und ihm ein Schmerzmittel verabreicht. Tao brachte ihn zum Tor.
»Zwei auf einen Streich«, sagte er. »Damit sind Sie zweihundert Prozent erfolgreicher, als wir es je waren, Doktor. Sie scheinen mir der geborene Detektiv zu sein. Haben Sie schon mal daran gedacht, zur Polizei zu gehen?«
»Sie machen sich doch bloß lieb Kind, weil ich gedroht habe, Sie in die Hölle versetzen zu lasen.«
»Na ja, ich hätte wahrscheinlich nichts gesagt, wenn ich nicht doch ein wenig Schiss vor Ihnen hätte, aber es stimmt. Ich bewundere Sie. Ich weiß, dass Sie aus der Lösung dieses Falles keinen persönlichen Vorteil ziehen. Ich habe das dunkle Gefühl, Sie haben es nur getan, damit die Mutter endlich Frieden findet. Ich finde das großartig.«
»Konzentriere dich auf die kleinen Dinge, und mache sie gut.«
»Das werde ich mir merken.«
Sie gaben sich die Hand, und Siri ging durch die stickigen Straßen in sein Hotel. Die dicken Wolken waren mit Macht zurückgekehrt und bildeten eine passende Kulisse für seine gedrückte Stimmung. Er musste ständig an das verlorene Leben des kleinen Jungen denken. Ihm fiel Keuks Bemerkung über die vielen Toten ein, die die Fischer in Khong nach den Vergeltungsschlägen der Franzosen aus dem Fluss gezogen hatten. Berge von Leichen, hatte er gesagt, gefoltert und ermordet, weil sie ihr Vaterland liebten, und was hatte es ihnen gebracht? Was hatten diese Patrioten durch ihren Opfertod wirklich erreicht? Lohnte es sich überhaupt, für all das zu kämpfen? Und: Ließen sich seine verrückten Landsleute guten Gewissens verteidigen? Wieder einmal ertappte er sich beim Grübeln. Dabei hatte ihm das Denken noch nie besonders gutgetan. Kein Wunder, dass die meisten Ärzte, die sich das Leben nahmen, Pathologen waren.
Er atmete tief durch, bevor er das beste Hotel in Paxke betrat, in dem er nun schon seit über einer Woche residierte. Es war ungefähr so extravagant wie gebratener Reis. Die Empfangsdame saß im Schneidersitz auf dem Fußboden hinter der Rezeption und rupfte ein Huhn. Als er sich über den Tresen beugte, lächelte sie ihn an. Sie war im Teenageralter und der lebende Beweis dafür, dass die hohe Kunst der Gastlichkeit sich nicht von heute auf morgen erlernen lässt.
»Ey, alter Mann, was haben Sie denn gemacht? Sind Sie vom Rad gefallen, oder was? Ihr Cousin sucht Sie schon den ganzen Tag. Er hat sich mindestens ein Dutzend Mal danach erkundigt, wo Sie stecken, als ob ich das wüsste.«
Siri sparte sich die übliche Gardinenpredigt.
»Ist er da?«, fragte er.
Sie sah zum Schlüsselbrett. Es war leer. »Er müsste eigentlich auf seinem Zimmer sein.«
»Danke.« Er legte die Hand auf das große grüne Telefon, das wie ein tarnfarbener Panzerwagen auf dem Tresen stand. Er hatte es noch nie klingeln gehört. »Funktioniert das Ding?«
»Das Telefon? Das ist nur für Ortsgespräche. Wenn Sie ein Ferngespräch führen wollen, müssen Sie zur Post gehen.«
»Gut. Danke.«
Als er vor Civilais Tür im ersten Stockwerk stehenblieb, hörte er von drinnen Jubel und Gelächter, als sei dort eine Feier im Gange. Er überlegte, ob er nicht lieber direkt in sein Zimmer gehen sollte, entschied sich dann aber doch dagegen, drückte die Klinke und trat ein. Das Aufgebot an Gästen hätte wunderlicher kaum sein können. Auf dem Bett saßen zwei Leute, die in Pakxe derart fehl am Platz wirkten, dass er sie zunächst nicht erkannte. Phosy und Dtui standen auf, um ihn zu begrüßen. Während sie auf ihn zutraten, warf Siri rasch einen Blick in die Runde. Phosys Soldatenfreund Kumpai saß unter den nordischen Hirschen auf dem Fußboden. Gouverneur Katay saß mit hinter dem Kopf verschränkten Händen in einem der Gästesessel und grinste wie ein glücklicher Vater bei der Hochzeit seiner Tochter. Und Civilai saß auf seinem
Weitere Kostenlose Bücher