Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
sie sich auf die kleine Plattform, die schon für eine Person zu schmal war. Trotzdem tat Siri es ihr nach, während Tao auf der fünften Sprosse von oben verharrte.
»Aufmachen«, sagte Siri.
Der Turm war sechs Meter hoch und hatte einen Umfang von etwa achtzehn Metern. Während der Regenzeit blieb er offen, um das Wasser aufzufangen, den schier endlosen Sommer über wurde er mit einem Dach versehen, das nicht nur dafür sorgte, dass das kostbare Nass nicht verdunsten konnte, sondern auch durstige Vögel fernhielt, die häufig so viel soffen, dass sie verendeten und in der Zisterne verfaulten. Rings um den Dachaufsatz verlief ein gut zwei Zentimeter breiter Spalt, welcher der Belüftung des heißen Sommerwassers diente und größeren Tieren den Zugang verwehrte. Im Dach befand sich eine Luke, die zu einer abnehmbaren Leiter im Innern der Zisterne führte.
Die Hausmeisterin hob die Klappe und trat beiseite, damit Siri hineinsehen konnte. Das Licht, das durch die Öffnung fiel, spiegelte sich auf der stillen Wasseroberfläche. Er schleuderte die Sandalen von den Füßen, krempelte sich die Hosenbeine hoch und stieg über den Sims auf die Leiter. Vorsichtig kletterte er sie hinunter.
»Der Wasserstand ist aber ziemlich niedrig«, sagte er.
Sie starrte durch die Luke zu ihm herab. »Was erwarten Sie? Ihr Lumpen habt uns die Pumpe gestohlen.«
»Was meinen Sie, wie hoch es steht? Etwa einen Meter?«
»Wenn Sie meinen.«
Als er den Fuß ins warme Wasser tauchte, hielt Siri inne. Er blickte zu dem schimmernden Lichtkreis rings um den Dachaufsatz hinauf – als würde ein Ufo über ihm kreisen – und wusste, dass dies das Letzte war, was Sing in seinem kurzen Leben gesehen hatte. Er ließ sich ins Wasser hinab und fuhr zusammen, als sein Fuß den Schleim am Boden der Zisterne berührte. Kaum zu fassen, was für eine Tortur der arme Junge hatte erdulden müssen. Wie viele Tage sie ihn wohl im hüfttiefen Wasser hatten stehen lassen? Hungrig, bei lebendigem Leib von Mücken gefressen, verängstigt und allein. Hitze und Erschöpfung hatten ihm so sehr zugesetzt, dass er schließlich im Wasser versunken und ertrunken war.
Siri watete vorsichtig um die Innenwand der Zisterne herum, bis er auf eine Zeichnung stieß. Sie war mit brauner Farbe in den grauen Beton gekratzt. Siri stellte sich die Szene bildlich vor: die stundenlangen, durch die dicken Mauern gedämpften Hilferufe, Verzweiflung, Langeweile. Ein oder zwei Flusskiesel in der Tasche seiner kurzen Uniformhose. Am zweiten Tag, zitternd vor Erschöpfung, mit schrecklichen Schmerzen in Armen und Beinen, versucht er, sich dadurch abzulenken, dass er ein Meisterwerk in den Beton ritzt. Die Steine sind zwar nicht weich genug, aber im Laufe des Tages gelingt ihm ein wunderschönes Bild – ein kleines Mädchen mit einem Lächeln, das halb so groß ist wie ihr Kopf. Sie hält die Hand eines Jungen, der Hörner wie ein Büffel – oder Teufel – hat. Darunter nur ein einziges Wort: Freunde.
All die verdrängten Gefühle der vergangenen Woche kamen in Siri hoch, und er lehnte die Stirn gegen den Beton und weinte hemmungslos. Zwei Mal hallte Taos Stimme durch die Zisterne, dann erst konnte er ihm eine Antwort geben.
»Alles klar da unten, Doktor?«
Siri wischte sich die Tränen von den Wangen und watete zurück zur Leiter. »Nein«, sagte er. »Ganz und gar nicht.«
Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, brachte Siri sein Gesicht ganz nah an das der Frau und starrte sie aus wiesengrünen Augen an. Seine Stimme war nur noch ein Knurren.
»Ich habe noch nie die Hand gegen eine Frau erhoben«, sagte er. »Nicht ein einziges Mal. Aber bei jemandem wie Ihnen wäre ich durchaus geneigt, eine Ausnahme zu machen. Sie sind …«
Da traf ihn ein mächtiger Hieb in den Rücken, und er segelte durch die Luft. Er landete mit dem Gesicht voran im Matsch, und binnen Sekunden fiel eine knurrende, zähnefletschende Kreatur über ihn her und traktierte ihn mit Fäusten. Sie biss ihm ins Ohr, und ein stechender Schmerz sagte Siri, dass sein Trommelfell geplatzt war. Er roch ihren pestilenzialen Atem und spürte ihren enormen, unmenschlichen Zorn. Erst als er sich auf die Seite wälzte und die Finger in das Gesicht seines Angreifers bohrte, erkannte Siri, mit wem er es zu tun hatte: dem vor Wut schäumenden Bruder, der seiner Schwester zu Hilfe gekommen war. Es war eine instinktive, animalische Reaktion. Im Innern des schmächtigen, wortkargen Mannes lauerte eine wilde
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