Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Highlands zustürzte, das Gefühl hatte, Herr der Lage zu sein. Womöglich vollführte er sogar ein oder zwei Purzelbäume, bevor er mit einem lauten Platsch unten aufschlug.
Siri klang das Platsch noch in den Ohren, als er auf einer kleinen Rasenfläche oberhalb des Fährhafens erwachte. Er hatte keine Ahnung, wie er dort hingeraten war. Vor seinen Augen wurde der Xedon – der bisweilen den Eindruck machte, als hielte er sich für ein ganz besonderes Exemplar der Gattung Fluss – vom majestätischen Mekong geschluckt wie ein Wurm von einer riesenhaften Kobra. Das erhabene Schauspiel überforderte Siris begrenztes Fassungsvermögen bei Weitem. Sein Gehirn fühlte sich an, als sei es auf Walnussgröße geschrumpft. Wenn er den Kopf bewegte, konnte er es in seinem Schädel klappern hören. Seine Ohren pochten, seine Augen brannten, und sein Hals war so steif wie ein Baumstumpf. Sein Körper war ein Quell bislang ungekannter Schmerzen und Qualen. Morphium und Adrenalin wirkten schon lange nicht mehr, und er bereute, dass er sich auf einen Ringkampf mit einem weitaus jüngeren Mann eingelassen hatte. Sich auf einen Ellbogen zu stützen erforderte schier übermenschliche Kraftanstrengung.
Da grollende Wolken den Himmel bedeckten, war es nicht ganz einfach, die Tageszeit zu bestimmen. Seine innere Uhr sagte ihm, dass seit Sonnenaufgang höchstens eine Viertelstunde verstrichen war, doch der Übergang zwischen sicherem Instinkt und bloßer Vermutung war fließend. Unten im Fluss nahm eine Frau ein Bad. Sie stand bis zu den Hüften im rostbraunen Wasser und trug nichts als ein dünnes, über den Brüsten verknotetes Baumwolltuch. Der Badesarong ist schlauchförmig gewebt, und Siri wusste aus Erfahrung, dass sie darunter nackt war. Für Siri gab es auf der Welt nichts Schöneres und Erotischeres als eine Frau, die in einem Fluss steht und sich wäscht.
Sie löste den lockeren Knoten und zog das Tuch nach vorn. Dann nahm sie Seife aus einem schwimmenden Schälchen, griff von oben in ihren Sarong und schrubbte sich. Sie verknotete das Tuch wieder, schob die Hand unter den Saum und seifte noch die entlegensten Regionen ihres Körpers sorgfältig ein. Schließlich ließ sie sanft die Hüften kreisen, nahm ihr Seifenschälchen und watete ans Ufer; der Stoff klebte an ihrem schlanken Leib wie eine Tätowierung. Siris Lebensgeister waren geweckt. Ein solcher Anblick konnte einen Knaben zum Mann machen. Siri war derart erregt, dass er darüber glatt die Algen und Flussbakterien vergaß, deren einziger Daseinszweck darin bestand, warmes, fruchtbares Fleisch zu finden, das sie befallen konnten. Dass sie ein Gewässer verschmutzte, das Tausende von Familien stromabwärts mit Trinkwasser versorgte, verzieh er ihr gern, und auch die Frage, was stromaufwärts in den Fluss gelangt sein mochte, spielte hier und jetzt nicht die geringste Rolle. All das waren bedeutungslose Nichtigkeiten, verglichen mit dem lustvollen Anblick einer Frau, die in einem Fluss ein Bad nimmt.
Da fiel ihm ein, weshalb er zu so früher Stunde hierhergekommen war. Er hatte die Party vorzeitig verlassen, um Daeng die frohe Kunde zu überbringen. In seinem trunkenen Zustand hatte er ihr Häuschen im Gewirr der Nebenstraßen nicht finden können, und so war er stattdessen zu ihrem Nudelstand gepilgert. Wie um drei Uhr morgens nicht anders zu erwarten, lag der in seine Einzelteile zerlegt auf ihrem Karren festgebunden, der seinerseits mit einem Vorhängeschloss an ein armdickes Rohr gekettet war. Siri war die Böschung hinaufgeklettert, um über sein weiteres Vorgehen nachzudenken, und dort hatten ihn Schmerzen und Erschöpfung übermannt.
Doch jetzt war die Fähre wieder in Betrieb, und jede Menge hungrige Passagiere tummelten sich am Anlegesteg. Er wusste, dass seine alte Freundin längst am Kessel stand, und gegen einen Kater gab es keine bessere Medizin als eine Schüssel Nudeln. Hätte Daengs Nudelstand Nähte gehabt, wäre er aus selbigen geplatzt. Die kleinen Plastikhocker waren allesamt besetzt, manche gleich von zwei Gästen, die jeder auf einer Hinterbacke balancierten. Andere hatten sich mit ihrem Essen auf dem betonierten Steg niedergelassen und ließen die Beine über die Kante baumeln. Vor dem Karren hatte sich eine lange Schlange von Leuten gebildet, die Daeng bei der Arbeit zusahen – sie hatte alles fest im Griff und obendrein stets Zeit für ein Lächeln und einen kleinen Plausch mit ihren Kunden. Siri postierte sich ein Stück abseits und
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