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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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General machte auf mich den Eindruck eines lebendigen, gebildeten und professionellen Menschen. Einfach einen durchaus guten Eindruck. Mir ist klar, dass die Leitung des Strafvollzugs kein Wohltätigkeitsverein feiner Damen für obdachlose Katzen ist, obwohl …
    Was glauben Sie, Michail Borissowitsch: Die Flut von Strafen, die auf Sie einstürzt, die teils lebensgefährlichen, teils lachhaften Schikanen – auf welcher Ebene wird das organisiert? Von der örtlichen Gefängnisleitung oder auf höchster Ebene? Oder von einer ganz anderen Instanz? Ich meine natürlich den Kreml.
    Aber ich möchte Sie auf keinen Fall in eine noch schwierigere Lage bringen, als Sie es ohnehin sind. Sie brauchen diese Frage nicht zu beantworten.

    Als Dmitri Medwedew Präsident wurde, stellten mir Journalisten im Ausland immer dieselbe Frage, die sie sehr bewegte: Was ich vom neuen Präsidenten halte. Wie soll man darauf antworten, wenn man sich selbst den Luxus erlauben kann, überhaupt nicht über sie nachzudenken. Es gibt eine Menge interessanterer Dinge im Leben. Aber meine Antwort war immer dieselbe: Bald werden wir mehr über ihn wissen – wenn Chodorkowski freikommt, dann ist das ein anderer Präsident, wenn nicht, dann haben wir keinen neuen Präsidenten. So leicht ist das Rätsel der Sphinx zu lösen!
    Und Sie, Michail Borissowitsch, haben Sie am eigenen Leib gespürt, dass ein anderer im Kreml sitzt – oder hat sich nicht das Geringste verändert?
    Ihre Geschichte ist erstaunlich, Michail Borissowitsch: Sie haben schon so viele verschiedene Leben erlebt, und ich hoffe, auch vor Ihnen liegt noch ein ordentliches Stück Leben. Als Unternehmer und Politiker oder zurückgezogen als Privatmann, in jedem Fall wird das ein sinnerfülltes, schöpferisches Leben sein. Ich kann mir Sie nicht im Ruhestand vorstellen. Wie sehen Sie Ihr Leben nach der Freilassung? Im Moment verteidigen Sie sich, und das tun Sie hervorragend. Was werden Sie tun, wenn Sie wieder zu Hause sind?
    Vor einem Monat war ich in Koralowo, in dem Lyzeum für Waisen, das Sie gegründet haben. Dort ist jetzt ein neuer Direktor, ein sehr guter und kluger Mann; Marina Filippowna und Boris Moissejewitsch 28 sind von Kindern umgeben, und man erkennt, was für ein wunderbares Verhältnis das ist. Die idiotische Zuzahlung für die noch lebenden
Eltern der Zöglinge ist vom Tisch, und das ganze Lyzeum ist eine Art in die Tat umgesetzte soziale Utopie. Auf Spuren Ihrer Wohltätigkeit stoße ich überall – aber eben nur auf Spuren. Ein großartiges Projekt wurde zerstört. Ganz zu schweigen von Ihrer Firma. Aber mich interessieren in diesem Fall Sie, nicht das Geld, das man Ihnen genommen hat.
    Was werden Sie nach Ihrer Freilassung tun? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie keine Zukunftspläne machen.
    Ich wünsche Ihnen eine stabile Gesundheit und Geduld. Mut und Kraft haben Sie genug. Wir erwarten Sie in der Freiheit.
    Ljudmila Ulitzkaja
     
    8.
    24. Juni 2009
    Verehrte Ljudmila, vielen Dank für Ihren Brief, ich freue mich sehr, mit Ihnen streiten zu dürfen, obwohl Sie mich in Ihren Kommentaren eher schonen. Das ist übrigens unsportlich: Sie gestehen mir nicht zu, meine sehr kurz dargelegten Behauptungen zu begründen, mit denen Sie, wie ich sehe, nicht einverstanden sind.
    Wenn Sie mehr auf mich schimpfen, weniger »für die Öffentlichkeit« schreiben würden – ich wäre nicht gekränkt.
    Ich bin tatsächlich Anhänger eines starken Staates, das heißt, ich glaube, dass der Staat in den nächsten zwanzig bis vierzig Jahren (weiter voraus schaue ich nicht) in Russland eine größere Rolle spielen muss als heute. Doch ich bin keineswegs für eine »harte Hand«. Ich bin überzeugt: Ein starker Staat hat gut funktionierende Institutionen, die vom Steuerzahler finanziert werden und im Interesse des
Steuerzahlers handeln. Mit der Zeit müssen viele dieser Institutionen durch gesellschaftliche Strukturen ersetzt werden. Dann wird nicht mehr der Steuerzahler zur Kasse gebeten, sondern die Zivilgesellschaft organisiert sich selbst. Und selbstverständlich bin ich dagegen, dass der Staat weiter in der »tatarisch-mongolischen« Tradition ein Okkupant bleibt, von den Bürgern Geld eintreibt und nicht verpflichtet ist, über die Verwendung dieser Abgaben Rechenschaft abzulegen, sich nicht um die Interessen der Bürger schert und ihnen diktiert, wie sie leben sollen.
    Was die Globalisierung angeht, so bin ich Globalist. Lesen Sie meinen Aufsatz über die Ursachen der Krise.

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