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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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29 Aber ich bin überzeugt, dass die Nationalstaaten sich noch nicht so bald überlebt haben werden. Auch halte ich zwar die ökonomische und ökologische Globalisierung für notwendig und sehe sie positiv, aber bei der Kultur habe ich meine Zweifel.
    Ich persönlich möchte nicht in Baku oder Chinatown leben, sondern in dem Moskau, wie es mir seit meiner Kindheit vertraut ist. Selbst wenn meiner Stadt dadurch die eine oder andere Einnahme entgeht. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich beurteile Menschen nicht nach ihrer Herkunft oder Nationalität, aber wenn jemand in »meine Stadt« kommt, dann muss er meine Regeln akzeptieren und mir nicht seine eigenen aufdrängen.
    So denken viele. Ob man sich wohlfühlt, hängt vom kulturellen Umfeld ab, und längst nicht jedem gefällt New York.
    Wenn ich eines Tages in der Minderheit sein sollte, ziehe
ich weg und suche mir einen Ort, wo man so lebt, wie ich es von Kindheit an gewohnt bin. Und diese Suche nach einer Gesellschaft mit den gleichen kulturellen Wurzeln ist ein sehr starker Antrieb. Für die meisten Menschen sogar stärker als der rein ökonomische.
    Zu den »aufrichtigen Soldaten« … Ich fürchte, Sie irren. Mit einem »aufrichtigen Soldaten« würde ich einen gemeinsamen Nenner finden, aber das, was bei uns vorgeht, schadet selbst dem Staat. Es ist viel schlimmer – wir haben es mit einem total pervertierten Teil der Bürokratie zu tun, der bewusst nicht der Gesellschaft und auch nicht dem Staat dient, sondern nur seiner eigenen Tasche, seinen eigenen egoistischen Interessen. Das ist ja das Problem: Wir leben in einem Staat von Zynikern, die keine Ideologie haben, nicht einmal eine »sowjetische«.
    Ich fürchte, die »Großmacht Russland« ist für die Mehrheit nur eine Parole, von der sie sich für Geld ohne Weiteres lossagen würden. Wenn sie hier Gefahr liefen, das »mühsam Ersparte« zu verlieren, und eben jenes Amerika ihnen Zuflucht gewähren würde, dann würden sie ganz einfach dorthin gehen.
    Nun zur Chancengleichheit. Ich werde tun, was ich kann, damit bei uns in Russland alle Kinder die gleichen Chancen bekommen. Das ist unerreichbar, wie jedes Ideal. Aber für dieses Ideal würde ich mein Leben geben. Das »Recht auf eine Chance« ist das Wichtigste, was wir allen Kindern in Russland geben müssen. Auf der ganzen Welt. Umweltschutz, Bildung, politische Freiheiten dienen nicht nur dazu, einen gewissen minimalen Lebensstandard und Komfort für jedermann zu gewährleisten, nicht nur dazu, den durchschnittlichen Lebensstandard anzuheben, sondern
dazu, dass jedes Kind, jeder Mensch eine Chance bekommt, seine Möglichkeiten zu realisieren, unabhängig davon, in was für einer Familie (oder in welchem Land) er geboren wurde.
    Für die ganze Welt kann ich keine Verantwortung übernehmen, aber für die nächste Generation in Russland kann und will ich kämpfen. Ich bin sicher, das ist nicht nur eines der wichtigsten Ziele, sondern auch die wichtigste Ressource für die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft.
    Darüber, was ich »danach« tun werde, denke ich selten und nur abstrakt nach. Das wird sich zeigen. Tun, was man kann, muss man, wie ich finde, hier und heute, jeden Tag so, als sei es der letzte. Dann hat man keine Zeit, sich zu fürchten. Handeln, solange Kraft und Talent reichen, damit es später nicht »qualvoll schmerzt«, 30 wenn du plötzlich erfährst, dass deine Zeit um ist … Wer weniger Talent hat, kann zumindest durch sein gutes Beispiel vorangehen. Und das versuche ich.
    Noch einmal danke für Ihren Brief.
    Hochachtungsvoll,
    M. Chodorkowski
     
    P S: Entschuldigen Sie das überflüssige Pathos und den holprigen Brief. Ich schreibe während der Verhandlung, werde dauernd abgelenkt …

     
    9.
    26. Juni 2009
    Lieber Michail Borissowitsch!
    Den Sport lassen wir mal beiseite. Wir beide wetteifern nicht in der Kunst der Rhetorik. Und bei unserem Gespräch geht es nicht darum, dass einer von uns recht behält. Es geht darum, im Innern Ordnung zu schaffen, die eigenen Positionen zu überprüfen. Vielleicht, um sie zu ändern. Das ist für jeden denkenden Menschen nützlich.
    Wie sollte ich Sie beschimpfen; nicht einmal Ihre Feinde tun das mehr – aus dem einfachen Grund, weil Sie moralische Größe gezeigt haben.
    In der Beurteilung unseres Staates sind wir beide uns vollkommen einig – er taugt nichts. Weil er nicht seinem Land dient, sondern sich von ihm ernähren lässt. Die Sorte Staatsmann, der sich um das Wohl des Vaterlandes

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