Briefe aus dem Gefaengnis
stehen müssen, und nicht nur ihnen, sogar – was sie besonders schrecklich fanden – den Medien.
Eine solche Hemmungslosigkeit wie heute, da Leute sich sicher sind, dass sie nicht zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie nur die richtige »politische Position« haben – nein, das war damals schwer vorstellbar.
Als ich den Bereichsleiter Förderung Faslutdinow entließ, klagte er, ging bis zum Obersten Gericht der Russländischen Föderation, bekam recht und erhielt von mir über 40 000 Dollar Entschädigung (das war damals sehr viel Geld). Und meine Rechtsabteilung, die wusste, wie teuer sie ein verlorener Prozess zu stehen kommen würde, konnte nichts dagegen tun.
Nachdem Rosneft Jukos übernommen hatte, wurde er
einfach hochkant aus dem Gericht geworfen. Er weinte sich darüber bei meinem Anwalt aus, der seinen Fall in der Firma bearbeitete.
Nein. Gesetzeslücken aufzuspüren und sie vollständig oder teilweise auszunutzen – das war unsere Grenze. Der Regierung ihre eigenen Fehler bei der Gesetzgebung zu demonstrieren, das war das größte intellektuelle Vergnügen auf diesem Gebiet.
Ich kann nicht unerwähnt lassen, dass der wichtigste Grund für die Änderung meiner sozialen und unternehmerischen Prinzipien die Krise von 1998 24 war. Bis dahin hatte ich das Unternehmerdasein als ein Spiel betrachtet. Nur als ein Spiel. Bei dem ich gewinnen musste (wollte), aber bei dem auch Verlieren kein Beinbruch war. Ein Spiel, bei dem Hunderttausende jeden Morgen zur Arbeit kamen, um mit mir zusammen zu spielen. Und jeden Abend wieder zu ihren eigenen Sorgen und Angelegenheiten zurückkehrten, mit denen ich nichts zu tun hatte.
Das ist natürlich sehr schematisch ausgedrückt. Auch vor 1998 war ich mit Problemen konfrontiert gewesen, aber das waren Dinge, für die ich persönlich keine Verantwortung trug: Das war die »Lage«, als ich kam.
Dann aber kam das Jahr 1998. Das Lachen verging uns nicht gleich: Das überleben wir schon! Dann jedoch der August. Die Katastrophe. Der Ölpreis fiel auf acht Dollar pro Barrel, die Produktionskosten lagen bei zwölf Dollar pro Barrel. Ich hatte kein Geld, um die Schulden zurückzuzahlen,
und kein Geld für die Löhne. Doch die Leute hatten ganz real nichts zu essen, und dafür war ich persönlich verantwortlich. In Russland kaufte uns niemand das Öl ab, und exportieren konnten wir auch nichts. Keiner zahlte. Die Banken drohten, unsere Auslandskonten zu sperren. Die Banken stellten einfach den Zahlungsverkehr ein. Beresowski gab mir einen Kredit – 80 Prozent Jahreszins, zahlbar in Devisen.
Du gehst zu deinen Arbeitern, und sie brüllen dich nicht an, streiken nicht – sie haben Verständnis. Aber sie fallen vor Hunger in Ohnmacht. Besonders die Jungen, die sich nicht aus dem eigenen Garten versorgen können, oder kleine Kinder haben. Und die Krankenhäuser… Wir hatten ja auch die Medikamente bezahlt und die Leute zur Kur geschickt, aber nun – kein Geld. Und vor allem diese verständnisvollen Gesichter. Leute, die einfach sagen: »Wir haben auch gar nichts Gutes erwartet. Wir sind schon dankbar, dass Sie hergekommen sind und mit uns reden. Wir halten schon durch …« Nach dem August 1998 hat es keinen einzigen Streik mehr gegeben.
Als die Krise überwunden war, hatten sich meine Prinzipien verändert. Ich konnte nicht mehr einfach nur »Direktor« sein. Im Jahr 2000 gründeten wir die Stiftung »Offenes Russland«.
Noch einmal zu meinem Verhältnis zum Gesetz. Die Haltung: »Die Gesetze haben doch alle verletzt«, habe ich nie für richtig gehalten. Wenn du die Gesetze verletzt hast, musst du dich dafür verantworten. Meine Haltung ist eine ganz andere: Unsere Gesetzgebung (wie die jedes anderen Landes auch) lässt zahlreiche »weiße Flecken«, Interpretationsspielraum, und eben darin besteht im Grunde ja die
Tätigkeit der Gerichte (vor allem des Obersten Gerichts). Die Willkür oder, höflicher gesagt, »die selektive Anwendung des Gesetzes«, wie sie im Fall Jukos praktiziert wird, liegt darin, dass auf Jukos eine ganz bestimmte, eigene Interpretation des Gesetzes angewendet wird. Eine, die gegenüber anderen nicht angewendet wird (und nicht angewendet werden kann).
Ich halte unsere Gesetze im Großen und Ganzen für in Ordnung, sie sind nicht schlechter und nicht besser als in anderen Ländern, aber die Rechtspraxis, die Gerichte – das ist eine Katastrophe.
Nun zu den Ideen und Werten meiner Jugend.
»Unser Land ist eine belagerte Festung, darum tun wir
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