Briefe aus dem Gefaengnis
sorgt, ist bei uns ganz und gar ausgestorben. Doch Ihr Satz, »dass der Staat in den nächsten zwanzig bis vierzig Jahren in Russland eine größere Rolle spielen muss als heute«, macht mich ratlos. Die Herren an der Macht haben bei uns heute gewaltige, nie dagewesene Vollmachten, sie tun schlichtweg alles, was ihnen gerade einfällt, in der Wirtschaft ebenso wie in der Außenpolitik. Sie verteilen ohne jede Kontrolle die nationalen Ressourcen, überführen Staatseigentum in private Hände und schaffen es ungehindert ins Ausland. Wie viel mehr Macht soll dieser Staat noch bekommen? Und das sagt ein Mann, der die brutale Rache des Staates, das völlige Fehlen von Logik und gesundem Menschenverstand in seinem Handeln und die Wirkungslosigkeit der Gesetze am eigenen Leib erfahren hat?
Meiner Ansicht nach ist die Frage eine andere: Wie lenkt
man das, was im Lande vorgeht, in vernünftige Bahnen, wie verringert man die Willkür, über die Sie weit besser Bescheid wissen als ich. Was muss geschehen, damit die Gesetze, ob sie nun gut oder schlecht sind, tatsächlich eingehalten werden, wie begrenzt man die heute schrankenlose Macht der großen und kleinen Beamten, ihren Eigennutz, ihre unendliche Geldgier? Ich weiß es nicht.
Sie, Michail Borissowitsch, bezeichnen sich als Anhänger eines starken Staates. Aber was ist das, der Staat? Aus Ihrer Sicht? Er ist doch untrennbar mit dem Begriff Recht verbunden. Wie wollen wir ihn definieren? Mit Platon, der den Staat als Ausdruck der Idee der Gerechtigkeit versteht, wobei er davon ausgeht, dass alles allen gemeinsam gehört (Privateigentum also verboten ist), einschließlich Frauen und Kindern? Mit Kant, der meinte, der Staat sei die Vereinigung einer Vielzahl von Menschen unter der Herrschaft des Rechts? Mit Aristoteles, der den Staat als eine dem Allgemeinwohl dienende Gemeinschaft versteht? Oder ist, mit Lenin, der Staat »eine Maschine zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere«?
Wenn man diese Bücher liest, stellt sich heraus, dass all das schrecklich veraltet ist, alles ist aus unterschiedlichen Gründen unbrauchbar, bis auf Wladimir Solowjow: »Das Recht ist ein gewisses Minimum an Moral, das für alle gleich gültig ist.« Genau auf diesem Recht basiert der Staat. Theoretisch…
Diese antiken Autoren haben damals schon über all das nachgedacht – eine interessante Lektüre (aber denken Sie nicht, ich sei so furchtbar gebildet – das stammt alles, wie Nadeshda Mandelstam sagt, »aus dem Abreißkalender«). Aber ich habe auch das Gefühl, dass die Terminologie in
unserer Zeit einer Revision bedarf, dass viele Begriffe neu definiert werden müssten. Selbst so fundamentale Begriffe wie »Allgemeinwohl« oder »Tugend«, selbst sie müssen überdacht werden. Mitunter ist schwer zu bestimmen, was Sozialismus ist, was Kommunismus, was liberal oder konservativ, wo links ist und wo rechts, oben und unten. Ich werde versuchen, Ihnen Umberto Ecos großartigen Essayband »Im Krebsgang voran« zu schicken, dort beleuchtet er all diese Dinge wunderbar – er ist immer noch einer der klügsten Köpfe unserer Zeit.
Deshalb, Michail Borissowitsch, weiß ich mit Ihrer Behauptung, Sie seien ein Anhänger eines starken Staates (was ich nicht bezweifle, wenn Sie es sagen), nicht viel anzufangen. Man kann nicht »prinzipiell« für einen starken Staat sein. Diese Behauptung verlangt nach Erklärungen – für welchen Staat sind Sie? Für den Platonschen? Den Leninschen, also Marxschen? Oder vielleicht für unseren? Und dieser Staat soll eine noch größere Rolle spielen?
Ich finde genau wie Sie, dass unser Staat seinen unmittelbaren Pflichten (Schutz der Bevölkerung vor Kriegen und Armut) schlecht nachkommt. Es wäre gut, wenn er besser funktionierte. Aber wie denken Sie sich den Übergang von dem, was wir real haben, zu dem, was Sie sich ausmalen? Sie sind genauso wenig Revolutionär wie ich: Eine Revolution ist weit schlimmer als eine schlechte Regierung. Armut, allgemeiner Verfall sind ein kleineres Übel als Matrosen, 31 die in Schlössern Stühle zertrümmern und Bibliotheken verbrennen, Proletarier, die Geschäfte plündern, und Gesindel,
das in dunklen Gassen Passanten überfällt. Ganz zu schweigen vom Bürgerkrieg, der Revolutionen gewöhnlich begleitet. In diesem Punkt sind wir uns, denke ich, einig.
Aber der Staat wird sich nicht von selbst in die Richtung entwickeln, die Ihnen und mir wünschenswert erscheint. Wie also sollen die »gut funktionierenden
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