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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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Institutionen, die vom Steuerzahler finanziert werden und im Interesse des Steuerzahlers handeln«, plötzlich entstehen, die mit der Zeit auch noch durch gesellschaftliche Strukturen ersetzt werden, durch eine »selbst organisierte Zivilgesellschaft«? Brauchen wir einen neuen Lenin? Einen neuen Trotzki? Nein, da sind mir Fürst Kropotkin 32 und Alexander Herzen 33 lieber.
    Einig sind wir uns auch darin, dass wir beide, jeder auf seinem Gebiet und mit seinen Mitteln, unsere eigene Strategie entwickeln und tun, was wir für unsere Gesellschaft für nützlich halten. Ich kann meine eigenen, ganz bescheidenen Aktivitäten keineswegs mit Ihrem großartigen und breiten Wirken vergleichen, dessen Spuren ich noch heute sehe, obwohl man Sie längst ausgeplündert und Ihnen auf alle erdenkliche Weise die Luft abgedreht hat. Aber machen wir uns nichts vor – Behinderte zu versorgen, ihnen anständige Lebensbedingungen zu garantieren, sich um eine Million obdachloser Kinder und Waisen zu kümmern, die medizinische Versorgung der Rentner und aller anderen Menschen in Russland in Ordnung zu bringen, für die Ausbildung einer Generation zu sorgen, die keine Bücher lesen will,
sondern vom goldenen Fischlein träumt, das alle Wünsche erfüllt – das alles ist Aufgabe des Staates, nicht von Wohltätigkeit. Doch obwohl der Staat all dies nicht schafft, verfolgt er alle, die etwas ohne ihn auf die Beine stellen. Besonders bitter und tragisch ist das bei der Adoption von Kindern aus Waisenhäusern. Ohne Schmiergelder geht gar nichts. Früher hätte man das Menschenhandel genannt …
    Der Grund ist klar: Sobald die Gesellschaft ins Spiel kommt, zeigt sich sofort, wie verrottet der Beamtenapparat ist. Den eigentlichen Täter zu fassen ist unmöglich, denn er teilt mit seinen Vorgesetzten, und die schützen ihn. Am deutlichsten illustriert das der Fall Budanow 34 : Er wird von allen verteidigt, die in der Hierarchie über ihm stehen, denn sie hängen alle zusammen, haben dieselben Prinzipien und Gepflogenheiten. Was ich damit sagen will: Dieses System kann man nicht verbessern. Nicht stürzen. Nicht ersetzen. Es ist unser System, alle sind damit zufrieden. Aber was kann man tun? Innerhalb dieses Systems unabhängig das Seine tun: Ich kenne Menschen, die kein Schmiergeld nehmen. Es sind nicht viele, und sie haben es schwer, aber es gibt sie. Ich kenne Menschen, die nicht stehlen: Es sind nicht viele, und sie haben es schwer, aber es gibt sie. Im Unterschied zu unseren »aufrichtigen Soldaten« müssen sie keine Befehle ausführen, denn sie erwarten weder Gehaltserhöhungen
noch Beförderungen. Solche Menschen begegnen mir in Moskau und in der Provinz: in Bibliotheken, in Kindergärten, in Museen, sogar unter den Ärzten gibt es solche Helden. Nur sie können die Atmosphäre in der Gesellschaft ein wenig verändern.
    Dem gesichtslosen Bösen, das in unserem Land wächst wie Schimmel bei Feuchtigkeit, kann man sich nur persönlich widersetzen. Das ist gefährlich. Erregt Verdacht, Ärger, Neid und Hass. Sie haben bestimmt oft zu hören bekommen: Ach, du willst wohl, dass man dich bewundert? Willst geliebt werden? Uns anderen zeigen, was für ein Dreck wir sind?
    So ist unsere Gesellschaft. So ist unser Staat: mächtig, unmoralisch, brutal. Und davon wollen Sie mehr …?
    Damit sind wir bei der Globalisierung und der Krise angelangt. Die Globalisierung hat niemand erfunden und gefördert – sie wurde entdeckt, wie eine Naturerscheinung, wie plötzliche Erwärmung oder Abkühlung. Sie ist meiner Ansicht nach ein vollkommen unlenkbarer Prozess. Man kann sie natürlich bremsen oder fördern, aber als soziales Phänomen ist sie eine Gegebenheit, eben wie eine Naturerscheinung. Ob es uns gefällt oder nicht, ist eine andere Frage. Man kann dieses oder jenes korrigieren. Aber der Dschinn ist aus der Flasche, und die Völker werden sich über den Planeten verteilen, sich vermischen, sich gegenseitig beeinflussen, und das ist ein komplizierter Prozess. Ein ganzer Kontinent, Afrika, stirbt aus, und das, was sich heute in Spanien und Italien in Zusammenhang mit der illegalen Einwanderung abspielt, lässt sich schwer stoppen. Globalisierung heißt, dass weder die afrikanischen noch die europäischen Staaten dieses Problem durch Verbote lösen
können, dass Lösungswege nur gemeinsam gefunden werden können. Vor einigen Jahren hatten in Florenz auf dem Platz vor dem Baptisterium Afrikaner ein Lager aufgeschlagen. Der Platz versank in Urin und

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