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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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alles zur Stärkung der Verteidigungsbereitschaft, wir sind von Feinden umgeben« – das habe ich natürlich hinter mir. An die Stelle dieser Vorstellung ist das Verständnis für die Interessen von Ländern und Völkern getreten – die mit denen der Staaten und Eliten, gelinde gesagt, nicht immer übereinstimmen. Aber der Patriotismus, Sie werden lachen, der ist geblieben. Er sitzt tief in mir und hindert mich, Gemeinheiten über mein Land zu sagen, selbst wenn es mich sehr dazu drängt.
    Die Vorstellung vom Kommunismus als »lichte Zukunft« der Menschheit habe ich hinter mir, und der aufgedeckte Betrug hat in meinem Herzen Bitterkeit hinterlassen. Denn hinter dem schönen Traum versteckte sich ein aggressiver bürokratischer Totalitarismus. Doch die Idee von einem sozialen Staat, der sich um die (freiwilligen wie unfreiwilligen) Außenseiter der Gesellschaft kümmert, der gleiche Chancen für alle Kinder gewährleistet – diese Idee ist noch lebendig. Aber erst nach der Krise von 1998 wurde
sie für mich zu einem zusätzlichen inneren Antrieb. Davor waren das vor allem Gekränktheit und der Wunsch, zu beweisen, dass ich »es kann«.
    Bis die allgemeinmenschlichen Werte zu mir durchgedrungen waren, dauerte er länger. Ich glaube, genau in dem Moment, als sie durchgedrungen waren, habe ich rebelliert. Das war 2001 – es ging um NTW, und der Russische Unternehmerverband stellte sich die Frage, was Vorrang hat – Eigentum oder Pressefreiheit? Denn NTW hatte ja tatsächlich Schulden bei Gasprom. Damals kam ich für mich zu dem Schluss, dass das eine nicht ohne das andere geht, und gab NTW 200 Millionen Dollar. Was dann später in der Anklage gegen mich auftauchte.
    Ich bin kein Revolutionär. Wäre NTW erhalten geblieben, hätte ich die nachfolgenden Ereignisse womöglich weniger aufmerksam wahrgenommen. Ich hätte mich jedenfalls nicht aus dem Fenster gelehnt, sondern die Politik aktiveren »Genossen« überlassen, wie ich es auch sonst immer gehalten hatte. Hier konnte ich es nicht. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als ziehe sich eine Schlinge um meinen Hals zusammen.
    Aus dieser Sicht ist das Gefängnis eine klarere, weniger bedrückende Angelegenheit. Obwohl ansonsten natürlich alles andere als ein Zuckerschlecken.
    Natürlich war dieser Ausgang nicht mein Ziel. Doch ich wurde in eine Ecke gedrängt, aus der es keinen anderen anständigen Ausweg gab. Ein weiser Mensch, der ich nicht bin, hätte diese Alternative vermutlich zu vermeiden gewusst.
    Was das Projekt »Kulturanthropologie« angeht, bin ich nicht sicher, dass ich der beste Experte in Sachen Geld bin. Ich werde darüber nachdenken. Geben Sie, wenn möglich,
erst einmal meinen Anwälten Hinweise, was ich mir ansehen soll.
    Noch einmal danke für Ihren Brief.
    M.
     
    7.
    24. Juni 2009
    Lieber Michail Borissowitsch!
    Vor über einem halben Jahr habe ich Ihnen einen Brief geschickt, den Sie, wie sich jetzt herausstellt, nicht erhalten haben. Ich hoffe, dieser Brief erreicht Sie.
    Ihr Prozess – der absolut kafkaesk ist – zieht sich hin. 25 Ich habe angefangen zu zweifeln, ob das nur die übliche Unfähigkeit ist, »dasselbe wie immer«, oder ob dahinter eine teuflische Absicht steckt, die Hoffnung, dass die Gesellschaft es irgendwann müde wird, auf Ereignisse zu reagieren, die sich, wie schlechtes Theater, nur schleppend und mühsam entwickeln. Gut, dass es zwei Beteiligte gibt, Sie und Platon Lebedew, die diesen bösen Traum von Zeit zu Zeit aufbrechen.
    Man wird das Gefühl nicht los, dass hier lebendige Menschen gegen Schatten oder Gespenster ankämpfen. Oder Puppen? Keine Menschen, sondern Seifenblasen sind das, gogolsche Figuren, könnte man sagen, wenn das Ganze nicht so quälend dilettantisch inszeniert wäre. Nein, natürlich ist klar, dass es darum geht, den Prozess zu verzögern, allein schon, um Sie nicht freizulassen.

    Was meinen Sie, Michail Borissowitsch: Ist das einfach nur schlechte Regie oder ein schlauer Schachzug, der auf die Ermüdung der öffentlichen Meinung spekuliert? Hofft man, dass die ganze Welt diesen Prozess vergisst? Aber das wird sie nicht. Dieser Prozess wird in die Geschichtsbücher eingehen wie seinerzeit der Prozess gegen Sinjawski und Daniel. 26
    Dieser Tage war ich bei General Kalinin 27 wegen der Bücher, die wir an die Strafkolonien für Minderjährige schicken wollen; wir haben 62 Pakete gesammelt. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einen leibhaftigen General dieser Behörde zu sehen bekommen. Der

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