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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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wichtiger als ein umfassendes Konzept. Was Sie betrifft, so überzeugt mich alles, was Sie gegenwärtig tun und sagen, davon, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist: Mit Ihrem Verstand, Ihrem Herzen, Ihrem Gewissen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

     
    10.
    01. Juli 2009
    Verehrte Ljudmila Jewgenjewna,
    gestatten Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit zu strapazieren und einige Bemerkungen zu Ihrem letzten Brief über den Staat und seine Rolle zu machen.
    Ich beginne mit der Definition. Wir geraten häufig in Verwirrung, weil wir bei der Beschreibung gegenwärtiger Prozesse, die sich oft aus einer jahrhundertelangen Entwicklung bestimmter ursprünglicher Ideen ergeben, dieselben Begriffe benutzen wie in der Geschichtswissenschaft.
    Das anschaulichste Beispiel dafür ist die Demokratie als Staatsform. Wollten wir heute versuchen, die griechische Demokratie zu restaurieren, wäre das Ergebnis das, was wir als totalitäres System bezeichnen (oder bestenfalls als Autokratie). Das System staatlicher Institutionen, das wir heute unter Demokratie verstehen, wurde von mehreren Gelehrten entwickelt, im Wesentlichen im Laufe des 18. Jahrhunderts.
    Dasselbe gilt für den allgemeineren Begriff »Staat«. Der Staat ist eine Form der Selbstorganisation der Gesellschaft, die auf materiellen Beiträgen ihrer Mitglieder beruht (Beiträgen in unterschiedlicher Form, darunter auch einbehaltene Anteile des Bruttoinlandsprodukts). Auch diese Definition beschreibt den Staat natürlich von seiner administrativen Funktion her, um die es uns ja auch ging.
    Kann ein Staat zum Beispiel auf einen Zwangsapparat verzichten? Natürlich. Wir kennen eine Reihe von Staaten, in denen diese Funktion von der Gesellschaft selbst übernommen wurde.
    Kann ein Staat der Gesellschaft gegenüberstehen, also
nicht auf dem Willen der Mehrheit ihrer interessierten Mitglieder (denn der inaktive Teil der Gesellschaft beteiligt sich nicht an der Führung des Staates) aufbauen, eben dieses Herrschaftsgebilde zu unterstützen? Nein! Heutzutage nicht mehr.
    Wenn eine Gesellschaft »von außen« organisiert wird, dann ist das nach unseren heutigen Vorstellungen kein Staat im eigentlichen Sinne, sondern ein Okkupationsregime, das ohne äußere Unterstützung nicht stabil wäre.
    Was wir in Russland heute haben, ist aber ein Staat. Ob er uns gefällt oder nicht. (Ich sage gleich dazu: Es gibt auch Übergangsformen, aber sie dauern meist nicht länger als eine Generation, etwa zwanzig Jahre.)
    Soweit meine Auffassung des Begriffs vom Staat allgemein.
    Was nun die Rolle des Staates in Russland angeht, so möchte ich die Begriffe Rolle und Vollmachten gern gemeinsam betrachten.
    Die Vollmachten unseres Staates, also das per Gesetz festgelegte Recht, sich in das Leben der Gesellschaft und der Privatpersonen einzumischen, sind in der Tat gewaltig und nur unzureichend geregelt. Und es gibt nur ganz schwache Gegengewichte. Aber seine Rolle, das heißt, seine reale Teilnahme am Leben seiner Bürger, ist »unangemessen« gering.
    Wenn ich sage »unangemessen«, so meine ich unangemessen in Bezug auf den Zustand der Gesellschaft, die viele Probleme allein (ohne den Staat) noch nicht lösen kann oder will. Damit steht unsere Gesellschaft nicht allein, aber in diesem Fall muss eben der Staat eine größere Rolle spielen.

    Konkret: Der Staat verteilt bei uns einen geringeren Anteil des Bruttoinlandsprodukts (also des gesellschaftlichen Reichtums) um als in den meisten entwickelten Ländern und einen deutlich geringeren als bei unseren Nachbarn mit ähnlichen klimatischen Bedingungen. Dieser Anteil ist die wichtigste allgemeine Kennziffer, die sich ganz praktisch im schwachen Rentensystem, im Gesundheitswesen, in der Infrastruktur niederschlägt.
    Doch selbst in der Wirtschaft spielt der Staat eine relativ geringe Rolle. Natürlich kann Putin persönlich die faktische Verstaatlichung oder einen Eigentümerwechsel jedes beliebigen Betriebes beschließen. Er kann zehn Staatsunternehmen gründen und dort gewaltige Mittel investieren. Das sind Vollmachten. Doch der Einfluss, der mit diesen Vollmachten, wenn sie angewendet werden, auf Russlands Volkswirtschaft ausgeübt werden kann, ist sehr gering. Sie bleibt rohstofforientiert.
    Und hier gibt es zwei Auswege: entweder Liberalisierung und abwarten, was der Markt macht, oder eine durchdachte Industriepolitik.
    In der Praxis ist es natürlich immer eine Kombination. Aber ich meine (und in diesem Sinne bin ich Anhänger eines starken Staates),

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