Briefe aus dem Gefaengnis
Niveau, so scheint mir, bestimmt sehr vieles. Ob eine Theokratie, eine Monarchie, eine Demokratie oder ein sozialistischer Staat gut ist oder schlecht, hängt, so scheint mir, vom moralischen Niveau seiner Führer ab. In diesem Sinne ist eine gute Monarchie besser als eine schlechte Demokratie. Lew Schestow schrieb vor hundert Jahren: »Wo es keine Freiheit gibt, gibt es auch kein Brot.« Wo es keine Moral gibt, kann es auch keine soziale Gerechtigkeit geben, so würde ich es übersetzen.
Es fällt mir schwer, mich in der Diskussion mit Ihnen zu behaupten – Sie haben viel Erfahrung und konkretes Wissen über Organisationsprozesse. Doch letzte Woche hatte ich Besuch von einem Freund, einem theoretischen Physiker, der seit dreißig Jahren in Europa lebt und viele Bücher zur Organisationstheorie
übersetzt hat, und ein paar Abende lang habe ich mit ihm all die Fragen »durchgekaut«, die Sie in Ihrem Brief angesprochen haben. Ich habe Ihre Position vertreten, und er griff mich heftig an und entwickelte eine ganz andere Argumentation. Sie hätten sich mit ihm viel produktiver unterhalten können als ich. Schließlich nahm ich mir, in einen mir wenig vertrauten Themenkreis eingeführt, John Ralston Sauls Buch »Voltaire’s bastards: the dictatorship of reason in the West« vor. Ich weiß nicht, ob ich es zu Ende lesen werde, aber ich habe das Gefühl, dass in diesem Buch viel bessere Argumente gegen Sie stecken, als ich sie habe.
Vieles von dem, was Sie in Ihrem letzten Brief schreiben, weckt bei mir, offen gestanden, einen inneren Widerstand. Ich muss gestehen, dass ich eine ganze Woche an einer ausführlichen Antwort an Sie geschrieben habe, auf jede Ihrer Äußerungen, bis ich begriff, dass ich weder die nötige Kompetenz dafür noch ein wirkliches Interesse an den Themen habe, die Ihnen so wichtig sind. Das ging so weit, dass ich sogar jenes öde Gefühl wieder hatte, das mich in der Schule jedes Mal überkam, wenn ich eine Prüfung in Sozialkunde ablegen musste, oder später, an der Uni, in Parteigeschichte. Ich kann das einfach nicht.
Aber im Grunde ist meine Rolle ja auch nur, Ihnen einen Anlass zu geben, all das zu äußern, worüber Sie in den letzten sechs Jahren nachgedacht haben, damit die vielen Menschen, deren Augen auf Sie gerichtet und deren Herzen Ihnen zugewandt sind – als jemandem, der die großen gesellschaftlichen Rechnungen mit seinem eigenen, einzigen und unwiederholbaren Leben und mit seiner Gesundheit bezahlen muss –, damit diese Menschen erfahren, wofür Sie eigentlich zahlen.
Ich hoffe sehr, dass der Tag kommt, an dem wir zu dritt Tee trinken werden. Ich lade meinen Freund ein, mit dem ich die ganze Woche Ihre Gedanken über den Staat, seine Rolle und seine Vollmachten erörtert habe, Sie werden mit ihm debattieren, und ich werde in der Ecke sitzen und zuhören, denn das tue ich seit meiner Jugend am liebsten: klugen Streitgesprächen zuhören.
Ich wünsche Ihnen Kraft, Gesundheit und Energie.
Ljudmila
Der Briefwechsel wurde auf Deutsch zuerst in der Zeitschrift »Osteuropa« 1/2010 abgedruckt.
Der Briefwechsel Boris Akunin und Michail Chodorkowski
Der Moskauer Philologe, Essayist und Romanautor Boris Akunin (eigentlich Grigori Tschchartischwili), geboren 1956 im georgischen Tiflis, studierte an der Lomonossow-Universität Japanologie und Geschichte. Er war zunächst als Übersetzer und Redakteur tätig, bevor er 1998 unter dem Pseudonym Boris Akunin, das auf den bekanntesten russischen Anarchisten des 19. Jahrhunderts verweist, seinen ersten Kriminalroman veröffentlichte. Mit seinem Romandetektiv Erast Fandorin und der Nonne Pelagia schuf er Kultfiguren, seine Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt.
Akunin : Michail Borissowitsch, ich gehöre zu den Menschen, denen Ihr Schicksal keine Ruhe lässt. Davon gibt es viele. Aber Sie nehmen selten zu uns Kontakt auf. Wenn ein Interview mit Ihnen erscheint, dann steht es in der »Financial Times«. Warum? Ist es für Sie etwa wichtiger, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen als in Ihrer Heimat Gehör zu finden?
Chodorkowski: Für einen echten Dialog braucht es einen verständnisvollen, interessierten Gesprächspartner. So einer ist mir bei unseren Journalisten nicht untergekommen. Warum? Vielleicht wollen es die Verleger nicht, vielleicht ist Selbstzensur am Werk. Mit Journalisten aus dem Westen habe ich auch nicht oft zu tun. Was soll der westliche
Leser mit meiner Klage anfangen? Russland noch einmal
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