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Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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unter den heutigen Bedingungen müsste jener Teil der Volkswirtschaft, der von der »Industriepolitik« gelenkt wird, einen bedeutenden Teil der Industrieproduktion herstellen. Wahrscheinlich 60 Prozent.
    Was meine ich mit »Industriepolitik«? Die Entscheidung darüber, wo, wann und wie viel Öl, Gas, Diamanten gefördert werden und Wald geschlagen wird, vielleicht noch einige andere strategische Rohstoffe. Wie das geschieht, das muss der Markt regeln. Wohin und in welcher Form
diese Rohstoffe geliefert werden und welche der möglichen Varianten jeweils konkret zu wählen ist, auch das muss der Markt regeln. Politisch zu entscheiden ist, wo, wie viel und wie Strom erzeugt wird, wohin er geliefert werden soll (ich spreche von strategischen Energiemengen – rund 70 Prozent der Gesamterzeugung). Straßenbau, Stadtentwicklung, Förderung von Universitäten. Und so weiter über etwa hundert Seiten, und dazu ein flexibler Plan (ein Fünfjahresplan, so sehr es mir auch widerstrebt) auf weiteren hunderttausend Seiten, wenn man die Umsetzung in den Regionen berücksichtigt.
    Wozu? Hier kommt wieder das Problem der Steuerung ins Spiel. Damit der Markt funktioniert, braucht es mindestens drei, besser vier unabhängige Anbieter konkreter Dienstleistungen (oder Waren) an jedem Ort, wo diese Dienstleistungen oder Waren gebraucht werden. In einem kleinen Land kann das Problem über den Import gelöst werden. Auf dem riesigen Territorium Russlands (und hier geht es eben um das Territorium und um Verkehrswege) spielt der Import keine unwichtige, aber doch eine begrenzte Rolle.
    Industrie und Verkehr sind bei uns schlecht strukturiert. Vor allem seit dem Zerfall der UdSSR. Bis der Markt diese Defizite ausgleicht, kann es sehr lange dauern. Zuerst gilt es, die Schlüsselprobleme mit einer strukturellen Industriepolitik zu beheben, und später, wenn das Skelett wieder steht und Fleisch daran gewachsen ist, kann man – wie bei einem komplizierten Bruch – die »Titannägel« auch wieder herausziehen.
    Ich vertrete diese Position seit 1991, obwohl ich weiß, dass viele Liberale, meine Freunde, anderer Meinung sind.
Auf der Ebene der Theorie haben sie leider unrecht. Allerdings ist der Staat in seiner gegenwärtigen Form praktisch nicht in der Lage, die genannten Aufgaben zu erfüllen. Sie müssen aber gelöst werden. Deshalb kann und soll man die Vollmachten des Staates reduzieren, denn davon gibt es zu viele, und es gibt kein Gegengewicht; die Rolle des Staates aber, seine faktische Beteiligung am ökonomischen und sozialen Leben des Landes muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt stärker werden.
    Entschuldigen Sie noch einmal, dass ich Ihre Zeit beansprucht habe.
    Das Thema »aufrichtige Soldaten« und anderes, wie das Verhältnis von Kalkül und Kunst im Leben, habe ich mit Vergnügen und Interesse gelesen. Ihr Standpunkt scheint mir nicht in jeder Hinsicht gültig, aber äußerst nützlich für einen »Komsomolzen« und »Technokraten« wie mich. Danke. Ich werde darüber nachdenken.
    Mit Hochachtung und Dankbarkeit,
    M. Chodorkowski
     
    11.
    08. Juli 2009
    Lieber Michail Borissowitsch!
    Ihre Gedanken zu Staat und Verwaltung sind durchaus plausibel. Ich bin studierte Biologin und neige dazu, bestimmte Prinzipien aus der Natur auf soziale Mechanismen zu übertragen. Da gibt es viele Gemeinsamkeiten, und das fundamentalste Gesetz in der Welt der Biologie scheint mir in dieser Hinsicht die Evolution zu sein. Das Nervensystem, das ein Steuerungssystem im höchsten Sinn ist, hat sich aus undifferenziertem Gewebe entwickelt. Wir wissen
nicht, warum das geschah – vermutlich aufgrund einer immanenten Notwendigkeit, die wir mit unserem Verstand nicht fassen können. Wesentlich ist aber, dass diese »höherentwickelte Struktur«, das Nervensystem, im Prinzip nicht »gegen« den Organismus arbeitet. Wenn das so wäre, würde der Organismus sofort sterben, und das Nervensystem mit ihm. Das lässt sich auch auf das System »Staat – Gesellschaft« übertragen. Wenn der Staat schlecht funktioniert, dann stirbt die Gesellschaft, und mit ihr folglich auch der Staat.
    Biologische Prozesse haben keinerlei »ethischen« Aspekt. Soziale dagegen schon. Ein so sonderbares Phänomen wie die Moral ist weder an eine Klasse noch an eine Gruppe gebunden, sondern ausschließlich an das Individuum. Egal, wie die Staatsordnung beschaffen ist, die Führung liegt immer in den Händen eines einzelnen Menschen oder einer kleinen Personengruppe. Ihr moralisches

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