Briefe aus dem Gefaengnis
Fäkalien.
Doch das ist keine Globalisierung – das ist der ewige Kampf zwischen Kultur und Barbarei. Parallel zur Globalisierung verläuft noch ein weiterer mächtiger Prozess – die Barbarisierung. Und er ist in gewisser Hinsicht stärker und schlimmer. Auch ich lebe nicht gern in einem Moskau, das aussieht wie Baku oder Chinatown, nicht wegen der vielen Chinesen oder Aserbaidshaner, sondern weil es tatsächlich zu einem Zentrum der Barbarei mutiert, zu einem Ort, in dem alles, was nach Kultur aussieht, zertrampelt wird. In meinem Haus gibt es keine Chinesen oder Afrikaner – es sind meine eigenen Nachbarn, die ihren Mülleimer neben dem Müllschlucker auskippen, Fahrstuhl und Wände mit Filzstiften beschmieren, nicht unbedingt mit Obszönitäten, sondern mit den Namen von Fußballmannschaften. Im Frühjahr, wenn der Schnee schmilzt, ist unser Hof mit Hundekot und leeren Flaschen übersät. Daran ist nicht die Globalisierung schuld. Genau wie Sie mag ich Moskau nicht mehr. Die Stadt ist schmutzig, grob und gefährlich geworden und hässlich obendrein. Das letzte geschlossene architektonische Ensemble auf dem Manegeplatz haben die Barbaren von heute zerstört. Nicht irgendwelche Chinesen oder Aserbaidschaner, sondern die Stadtverwaltung.
Obwohl die Globalisierung auch Teil der Kultur ist, hat die Kultur doch ihre eigene Sprache – die Sprache der Musik, der bildenden Kunst und der Literatur. Dank der Globalisierung vermischen sich die Sprachen schneller, vielleicht entsteht sogar eine Art neuer Sprache, deren Buchstaben die
Musik der Beatles, die Schnellrestaurants von McDonald’s, Microsoft Word, Spiderman und chinesische Qigong-Übungen sein werden. Die Globalisierung verlangt nicht, dass ihr die Werte der nationalen Kultur geopfert werden. Die nationale Kultur ergibt sich selbst.
Den Ort, der uns von Kindheit an vertraut war, gibt es nicht mehr und wird es nicht mehr geben, so viel wir auch danach suchen. Es wird Sache unserer Kinder sein, Orte zum Leben zu schaffen, an denen der Mensch sich wohlfühlt. Gesellschaften mit einheitlichen kulturellen Wurzeln wird es nicht mehr geben, mit wenigen Ausnahmen. Höchstens vielleicht im Irak. Wir alle müssen uns entscheiden zwischen einer multikulturellen Gesellschaft und einer homogenen, traditionellen, wie im Irak oder in Afghanistan. Vielleicht gibt es auch andere Wege, aber ich kenne keinen. Es sei denn, man kauft sich eine Insel?
Als ich von den »aufrichtigen Soldaten« sprach, meinte ich eher, dass es die nicht gibt. Das ist nur eine bequeme Ausrede. Wir leben in der Tat in einem Staat von Zynikern, aber das Schlimme ist nicht, dass sie keine Ideologie haben, das Schlimme ist, dass sie kein Gewissen haben. Die heutigen Kommunisten haben ja eine Ideologie, und die Leute von Einiges Russland auch – die Ideologie, Russland sei eine Großmacht –, doch am Futtertrog verhalten sich alle gleich: Sie stoßen einander mit der Schnauze weg und schmatzen mit großem Appetit.
Für die Chancengleichheit würde auch ich gern mit Ihnen zusammen etwas tun. Schon jetzt haben Sie es Hunderten Kindern aus dem Internat Koralowo ermöglicht, aus einer schwierigen, beinahe hoffnungslosen Lage herauszukommen. Das kann ich bezeugen.
Darf ich Ihnen zum Schluss einen Witz erzählen? Einstein ist gestorben und steht vor Gott. Jetzt, wo ich tot bin, sagt er, ist es ja egal. Schreib mir die Formel des Universums auf. Gott nimmt ein Stück Kreide und schreibt. Einstein schaut sich die Formel lange an, kratzt sich am Kopf und sagt: Aber da ist ja ein Fehler drin! Ja, ich weiß, antwortet Gott.
Genau so ist es. Wir leben in einer Welt, die einen Fehler hat. Schon im Ansatz. Womöglich nicht nur einen. Haben Sie irgendwann einmal geglaubt, dass man sie verändern kann? Ich bin davon nicht überzeugt.
Aber zurück zu unserem Gespräch, Michail Borissowitsch: Sie sind ein Idealist. Hat man Ihnen das nie vorgeworfen? Sie sind Analytiker, Rationalist, Wissenschaftler und zudem ein großartiger Praktiker, aber bei all dem auch ein Idealist. Sie glauben daran, dass es im Prinzip richtige Lösungen gibt, dass man alles kalkulieren kann. Und wenn etwas nicht aufgeht, muss der Fehler in der Kalkulation liegen.
Ich dagegen glaube, das stimmt nicht. Das Leben ist eher Kunst als Wissenschaft. Es gibt keine allgemeingültigen Lösungen, nur konkrete, für den konkreten Augenblick, den konkreten Fall, für ganz konkrete Umstände. Und ein richtiger Schritt im konkreten Augenblick ist
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