Briefe in die chinesische Vergangenheit
ich Herrn Shi-shmi gefragt. Nein, hat er gesagt, es habe noch nie einen Feldherrn gegeben, der wegen dieses »Festes des Friedens« einen Feldzug unterbrochen habe. Im letzten Krieg, der noch nicht so lange her ist, und den Herr Shi-shmi als Kind erlebt hat, habe man widersinnigerweise sogar von den »Kriegs-Festen des Friedens« gesprochen. Verstehe die Großnasen, wer will. Die Verwirrung der Begriffe ist bei ihnen unausrottbar.
In den Tagen des »Festes des Friedens« fallen die häufigsten Selbstmorde vor, Familienväter erschlagen ihre Frauen (oder gelegentlich umgekehrt), Kinder werden ausgesetzt, und Greise verhungern. Das komme daher, meint Herr Shi-shmi, daß die Wohnungen zu klein sind. Die Leute ertragen es nicht, in den kleinen und niedrigen Wohnungen drei Tage lang so eng aneinandergepreßt zu leben. Sie ertragen es nicht, daher gibt es häufig Streit. Er selber, Herr Shi-shmi, könne sich nicht erinnern, daß in seiner väterlichen Familie jemals im Jahr so gestritten worden sei wie immer in den Tagen des »Festes des Friedens«. Einmal sei sein Vater für einige Zeit davongelaufen, weil seine Mutter ihm eine gebratene Gans an den Kopf geworfen habe, nachdem der Vater viele Stunden lang über nichts geredet habe, als daß jene Gans zu scharf gebraten sei.
Es ist üblich, wahrscheinlich aus Langeweile, an den Tagen des »Festes des Friedens« sehr viel zu essen. Bevorzugt werden »Fest des Friedens«-Gänse und »Fest des Friedens«-Karpfen. Ich sehe sie jetzt schon in den Fenstern der Läden angeboten. Getrunken wird wahrscheinlich auch nicht wenig, und wenn sich die Großnasen nicht streiten, denke ich mir, tun sie das, was sie überhaupt am liebsten tun: lieber als essen und trinken, lieber als schlafen, lieber als geschlechtlich zu verkehren – sie betrachten die Fern-Blick-Maschine. In jedem Haus, in jeder Wohnung, fast in jedem Zimmer (in meinem Hong-tel-Zimmer auch), stehen solche Fern-Blick-Maschinen. Sie sind sehr teuer und oft kaputt. Dennoch verzichtet eine Großnase lieber auf ihren A-tao-Wagen, lieber verzichtet sie auf anständige Mahlzeiten, lieber verzichtet sie auf ein Schlafgestell und einen Herd, als daß sie auf ihre Fern-Blick-Maschine verzichtet. Auch die ärmste Großnase hat so eine Maschine, und sie würde lieber Weib und Kind verpfänden, ja selbst die Seele wäre ihr feil, sie liefe bei Kälte nackt auf der Straße, sofern sie nur ihre Fern-Blick-Maschine behalten kann.
(Die Leute, die ich im Sommer vor allen Blicken nackt auf den Wiesen des Parks habe liegen sehen, sind allerdings nicht Leute, die ihr letztes Hab und Gut geopfert haben, um sich ihrer Fern-Blick-Maschine nicht entäußern zu müssen. So wörtlich ist das nicht zu verstehen. Jene Leute lagen nackt dort aus Schamlosigkeit und weil es angeblich gesund ist.)
Die Fern-Blick-Maschine ist ein mäßig großer Schrein, der vorn so etwas wie ein Fenster hat. Irgendwo gibt es ein Gremium, das in der Lage ist, Bilder, die leben, durch die Luft zu schleudern. Die Bilder werden von dem Mechanismus in der Fern-Blick-Maschine aufgefangen und wiedergegeben, sofern man auf einen Knopf drückt und die Maschine nicht gerade kaputt ist. Es ist keine Zauberei, wenngleich es aufs erste Hinsehen so wirkt. Der Mechanismus ist nicht komplizierter als unsere Zeit-Reise-Berechnung. Ich habe ihn mir von Herrn Yü-len-tzu erklären lassen, aber ich nehme an, daß Dich das im einzelnen nicht interessiert.
Du sitzt also vor der Fern-Blick-Maschine und schaust wie durch ein Fenster anderen Leuten zu. (Diese anderen Leute können allerdings Dich, der Du davorsitzt, nicht sehen. Ich habe mir das zu meiner Beruhigung versichern lassen.) Das meiste, was Du durch dieses Fern-Blick-Fenster siehst, ist überflüssig. Obwohl: ich muß zugeben, daß es mich anfangs fasziniert hat. Stelle Dir vor, Du hättest die Möglichkeit, anderen Leuten unbeobachtet ins Zimmer zu schauen – aber mit der Zeit wird es langweilig. Was passiert schon bei anderen Leuten? Nichts, was Du Dir nicht ohnedies denken kannst. Sie essen, sie trinken, sie lieben und sie verprügeln einander, sie reiten auf Pferden oder fahren in A-tao-Wagen … alles ganz langweilig, nichts, was man nicht ohnedies kennt.
Wenig ansprechend ist es, wenn einer durchs Fern-Blick-Fenster singt. Dieser Gesang hat meist mit der edlen Musik des Meisters We-to-feng und der anderen Meister nichts zu tun. Komisch ist es allerdings, und das unterhält mich ab und zu, wie die Herren und Damen, die in
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