Briefe in die chinesische Vergangenheit
schätze, zählt zu den Ausnahmen.
Herr Shi-shmi ist ein Freund des Richters. Er kam an jenem dritten Tag abends zum Richter und nahm mich mit zu sich. Offenbar war es zwischen den Freunden abgemacht worden, daß ich fortan bei Herrn Shi-shmi wohnen sollte. Alles in allem gesehen, ein großer Glücksfall für mich.
Herr Shi-shmi hat, ich schrieb es schon, weder Frau noch Konkubine, hat keinen Diener und kein eigenes Haus für sich. Er bewohnt mit unzähligen anderen Leuten ein schwindelerregend hohes Haus, das in einzelne über- und nebeneinandergelegene Klein-Häuser gegliedert ist. Ständiger Lärm durchtost das Haus. Die einzelnen Wohnungen sind über eine stets verschmutzte Zentraltreppe zu erreichen oder durch einen eigenartigen, senkrecht fahrenden kleinen Wagen, der auf magische Befehle gehorcht. (Ich kann den Wagen – er wird Li-lit genannt – noch nicht bedienen. Herr Shi-shmi kann es.) Herrn Shi-shmis Wohnung hat nicht mehr als sechs Räume, drei davon sehr, sehr eng. In einem … aber davon später. Es verbindet sich mit diesem Raum ein Herrn Shi-shmi im Zusammenhang mit mir offenbar peinliches Erlebnis. Einen der größeren Räume stellte Herr Shi-shmi mir zur Verfügung. Durch ein ganz mit Glas versehenes Fenster kann man auf die Stein-Straße hinausschauen. Man sieht aber nur andere solche Häuser, höhere und niedrigere und auf einige Bäume. Ich schaue nicht oft hinaus, denn es wird mir schwindlig. Ein weiterer, gar nicht groß genug zu nennender Glücksfall war es, daß Herrn Shi-shmis Haus nur vielleicht zweieinhalb Li vom Kontaktpunkt auf der Brücke entfernt ist. Bald werde ich ohne Hilfe Herrn Shi-shmis dorthin und wieder zurück gelangen können. Vielleicht versuche ich es schon das nächste Mal.
Es regnet immer noch. »Shai-we-ta«. Es grüßt Dich Dein treuer und ergebener ferner Freund
Kao-tai
Ich denke mit zärtlicher Sehnsucht an meine Shiao-shiao.
Siebter Brief
(Mittwoch, 31. Juli)
Geliebter Dji-gu.
Dein Brief, Deine endlich etwas längere Nachricht, hat mir als Gruß aus meiner fernen Zeit-Heimat unendlich wohlgetan. Deine geliebten Zeilen, überhaupt die vertrauten Schriftzeichen haben mir unsäglich das Herz gewärmt, obwohl ich mich hier von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde vertrauter, fast schon heimisch fühle. Daß die zweite Nebenfrau, dieses dumme Krokodil, sich ständig mit den Konkubinen herumstreitet, muß Dich nicht weiter bekümmern. Das macht sie immer. Wenn sie zu fragen anfangen sollten, wo ich bin, sage ihnen, das gehe sie nichts an. Daß das Fohlen immer noch nicht gesund ist, macht mir Sorgen. Man soll eventuell den Tierarzt Ma-kang aus T’ai-yüan holen. Er gilt als der beste. Kosten sollen keine Rolle spielen. – Das Paket Zeit-Reise-Papier ist wohlbehalten mitgekommen. Die Hauptfrau soll das Furunkel mit Haselnußöl behandeln. Daß meine Vierte Schwiegermutter noch lebt, erfreut mich geziemend.
Herr Shi-shmi, dessen Güte ich gar nicht genug preisen kann und den hier in dieser chaotischen Welt angetroffen zu haben ein gar nicht hoch genug einzuschätzender Glücksfall war, bemüht sich nun schon seit mehr als einer Woche, mir regelrechten und auch regelmäßigen Sprachunterricht zu erteilen. Obwohl es für mich und für mein ferneres Leben nach meiner – hoffe ich – glücklichen Rückkehr in meine Zeit-Heimat völlig müßig, um nicht zu sagen unsinnig ist, die barbarische Sprache einer fernen Zukunft zu beherrschen, leuchtet mir natürlich ein, daß die Sprache zu erlernen in meiner augenblicklichen Situation das allerwichtigste ist, um zu sehen und zu erkennen, was hier vorgeht, um nicht bloß wie ein dummer, stummer und fauler Fisch hier herumzuschwimmen, die hiesige Welt mit blöden Augen zu betrachten und um nichts als um das Überleben zu bangen. Zwei Stunden täglich sind angesetzt für die Sprachstudien, eine vormittags, eine abends. Herr Shi-shmi gibt sich unendliche Mühe und beweist unzerreißbare Geduld. Es tröstet mich, daß aber auch er Gewinn davon hat, denn er lernt bei der Gelegenheit zwangsläufig auch unsere Sprache; der Unterricht ist nämlich gegenseitig.
Er begann mit ganz einfachen Begriffen. Das war am Abend des Tages, an dem ich Dir den dritten Brief schrieb. Durch Gesten bedeutete er mir, ich solle mich in dem größten Zimmer der Wohnung hinsetzen. (Ich nehme an, es ist sein Arbeitszimmer. Ich sehe ihn ab und zu an einem Holztisch sitzen und Zeilen von links nach rechts schreiben.) Ich erkannte sogleich den Zweck:
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